Gewalt gegen Männer
Der 11. Januar 2014 ist ein Samstag. Der 19-jährige Timmy Weber spielt mit seinen Freunden an diesem Abend stundenlang das Computerspiel „FIFA“, bevor es gegen 22 Uhr zum Feiern in eine Disko in die Nähe von Göttingen in Niedersachsen geht. Der Abend verläuft völlig normal. „Wir hatten Spaß, haben getanzt, geredet, gelacht.“ Der 19-Jährige trinkt keinen Alkohol, er macht sich nichts daraus. Timmy Weber ist Leistungssportler, ein Fußballtalent. Er spielt in der Landesliga, will Profisportler werden.
„Ich wollte nicht schwach sein, ich wollte es schaffen!“
Gegen 4.30 Uhr verlassen die Freunde die Disko. Timmy Weber geht als Erster in Richtung Parkplatz. Auf das, was dann geschieht, ist er nicht vorbereitet. „Ich hatte mich in meinem ganzen Leben noch nie geschlagen“, berichtet der junge Mann, „bis dahin konnte ich Konflikte immer friedlich lösen.“ Er beobachtet eine Gruppe Männer, die ein Mädchen bedrängen.
An die Bluse des Mädchens kann er sich bis heute erinnern. „Sie war schwarz-weiß gestreift“, sagt Weber. „Wir hatten in der Disko darüber gescherzt. ‚Die sieht ja wie ein Schiri aus‘, haben wir gesagt.“ Er sieht, dass das Mädchen sich wehrt, sie ruft: „Lass das!“
Der 19-Jährige überlegt nicht lange, sondern mischt sich ein und versucht, zu beschwichtigen: „Wir hatten einen schönen Abend, lasst es gut sein!“ Er zieht die junge Frau aus dem Halbkreis der Männer heraus, sie kann weglaufen. Er will sich ebenfalls abwenden, da trifft ihn der erste gezielte und brutale Schlag auf das linke Auge.
Später soll in der Klinik festgestellt werden, dass der Schlag mit einem Schlagring vorgenommen wurde. Er hat keine Chance. Bevor er die Hände zum Schutz heben kann, trifft ihn ein Knie im Gesicht. Er geht zu Boden. Es folgen weitere Schläge und Tritte. Die Gruppe der Schläger vergrößert sich, das merkt Weber noch. Dann wird ihm schwarz vor den Augen. Er wird bewusstlos.
Acht Wochen liegt er im Krankenhaus. Rippenbrüche, Hämatome und Prellungen am ganzen Körper, die Liste der Verletzungen ist lang. Aber um sein Auge steht es besonders schlecht. Eine Ärztin erklärt ihm, dass er über kurz oder lang auf dem Auge erblinden wird. „Bis dahin habe ich gedacht: Das ist ja nicht so schlimm, in ein paar Wochen bin ich wieder fit.“
Gleich zu Beginn seines Klinikaufenthalts erhält er einen Anruf von Günter Koschig, Außenstellenleiter des WEISSEN RINGS in Goslar. „Wir bekommen durch unsere guten Kontakte zur Polizei sofort Bescheid, wenn jemand Opfer einer Gewalttat wird“, erklärt Koschig. Er bietet Gespräche an, eine mögliche Begleitung beim Gerichtsverfahren gegen die Täter und die Vermittlung finanzieller und psychotherapeutischer Hilfen. Timmy Weber bedankt sich, lehnt aber ab. „Ich dachte nicht, dass ich Unterstützung brauche.“
Nicht nur professionelle Helfer werden auf das Schicksal des jungen Mannes aufmerksam. Ein Fernsehteam dreht im Krankenhaus. Der Bericht, der entsteht, ist die Geschichte eines jungen Helden. In der Folge hat Timmy Weber plötzlich über 13.000 Likes auf seinem Facebook-Account. Als Held habe er sich aber nicht gesehen, sagt Weber.
Günter Koschig, der Opferhelfer des WEISSEN RINGS, weiß schon damals: „Nach dem Gespräch mit ihm im Krankenhaus spürte ich, dass da etwas nachkommen würde.“ Er lässt dem Gewaltopfer noch Informationen über den WEISSEN RING und Unterstützungsmöglichkeiten zukommen, ahnt aber nicht, dass der junge Mann allein lebt und den Brief erst Wochen später vorfinden wird.
„Ich verstand nicht, was da passierte, dass das meine Seele war, die da rebellierte.“
Nach der Entlassung tut Timmy Weber alles, um das Geschehene zu vergessen. Er nimmt seine Ausbildung wieder auf und möchte auch sportlich wieder Fuß fassen, muss da aber die erste Schlappe hinnehmen: „Ich war vorher ein extrem schneller Linksaußen beim Fußball, das war meine Stärke.“ Damit ist es vorbei, vor allem durch das schwer verletzte Auge.
Trotzdem beißt er sich durch: „Ich wollte nicht schwach sein, ich wollte es schaffen!“ Im Sportverein macht er als Jugendtrainer weiter. Auch den Prozess gegen die Täter steht er ohne Beistand durch. „Er hatte noch Glück“, erklärt der erfahrene Opferhelfer Koschig. „Er konnte seine Zeugenaussage in einer Polizeidienststelle statt im Gerichtssaal machen.“ Das sei selten, zeige aber, für wie gefährlich die Justiz die Täter hielt.
Während des Verfahrens erfährt er auch, dass sich einer seiner Freunde zu Unrecht als Retter aufgespielt hatte. „Mir hat er gesagt, dass er sich, als ich am Boden lag, über mich geworfen hat und mich so vor weiteren Angriffen geschützt hätte. Aber auf den Videoaufnahmen vom Tatort konnte ich genau sehen, dass er weggelaufen ist“, sagt Timmy Weber.
Etwa neun Monate nach jenem Samstagabend kommen die Bilder der Tat zurück. „Ich träumte in allen Einzelheiten von Tritten und Schlägen. Wenn ich dann völlig fertig aufgewacht bin, suchte ich an meinem Körper nach blauen Flecken – so real war das, erinnert sich Timmy Weber. Bei Autofahrten in Dunkelheit, ohnehin erschwert mit dem stark beschädigten Auge, erlebt er Panik- und Angstattacken, muss mitunter am Straßenrand anhalten. „Ich verstand nicht, was da passierte, dass das meine Seele war, die da rebellierte“, erklärt Weber. Mit aller Macht versucht er zu verdrängen, was passiert. Er nimmt zusätzlich zu seiner Ausbildungsstelle noch weitere Jobs an. „Ich wollte den ganzen Tag mit Aktivitäten abdecken.“ Vergeblich. Die Bilder überschwemmen ihn. Eineinhalb Jahre nach jener schlimmen Nacht unternimmt er einen Suizidversuch mit Schlaftabletten und hochprozentigem Alkohol, den er nur knapp übersteht. Er geht zu einem Arzt.
Der Arzt hilft ihm zunächst mit Gesprächen und angstlösenden Medikamenten. Eine gewisse Entspannung stellt sich auch ein, als er seine Ausbildung erfolgreich abschließt, eine Arbeitsstelle antritt und seine Freundin kennenlernt. Aber die Träume kehren wieder, der Druck wird größer und er fängt an, sich allem zu entziehen. Er muss die Arbeitsstelle aufgrund der seelischen Probleme aufgeben, pflegt kaum noch Kontakte, lebt hinter heruntergezogenen Rollos. „Ich fing an, wie ein Zombie zu leben“, sagt Weber rückblickend.
Erst Ende 2016, zwei Jahre nach dem Geschehen, schreibt Timmy Weber schließlich, auch auf Anraten der Mutter seiner Freundin, nachts eine E-Mail an den WEISSEN RING in Goslar. „Am nächsten Morgen um 9 Uhr hatte ich eine Antwort von Günter Koschig“, erinnert er sich, „ich war total verblüfft“. Von da an sei es wieder seelisch aufwärts gegangen.
„Hilfe annehmen zu können, das war der Schlüssel“, sagt der inzwischen 24-Jährige. Neben der Vermittlung professioneller psychotherapeutischer Hilfe hat ihm vor allem der Austausch mit dem ehemaligen Kriminalpolizisten Günter Koschig viel gebracht. Er hat erfahren, dass er kein Einzelfall ist, dass viele Männer sich nicht eingestehen, dass sie Unterstützung und Beistand brauchen. Mithilfe des vom WEISSEN RING vermittelten Opferanwalts Uwe Hoffmann hat Weber eine Rente nach dem Opferentschädigungsgesetz erstritten. Demnächst soll eine Klage auf Schmerzensgeld folgen. Er hat eine neue Arbeit und plant ein duales Studium.
Timmy Weber ist überzeugt: „Sich Hilfe zu holen ist keine Schwäche, sondern eine Stärke!“