Die missglückte Abzocke

Die Täter hatten wohl geglaubt, dass sie leichte Beute sind. Allein wegen ihres vorangeschrittenen Alters. Vermutlich hatten sie in Telefonverzeichnissen nach Vornamen gesucht, die vor Jahren aus der Mode gekommen sind, dabei waren sie auf Hildegard Möller, 80 Jahre alt, und ihren 75-jährigen Ehemann Ingo gestoßen. Dann hatten die Betrüger ihre Maschinerie angeworfen, ein vermeintlich ausgefeiltes Muster angewendet, dem ältere Menschen immer wieder zum Opfer fallen. Doch am Ende der Geschichte sollten Handschellen klicken. Und falsche Polizisten sich die falschen Opfer ausgesucht haben.

An einem sonnigen Mittag im Juli des vorvergangenen Jahres klingelt bei den Möllers in Eschwege das Telefon. Hildegard geht ran, wie fast immer. „Mein Mann telefoniert nicht gern“, bedeutet sie. „Ich mache immer so lange Sprechpausen. Das irritiert die Anrufer“, schiebt Ingo hinterher. Am anderen Ende der Leitung meldet sich ein Mann, der Stimme nach um die 30, er gibt sich als Hauptoberkommissar aus, Schulz sei sein Name, behauptet er. Dann beginnt er, seine Netz aus Lügen und Täuschungen zu weben: Er arbeite für eine Sondereinheit der Polizei, die verdeckt in Betrugsfällen ermittele. Eigentlich arbeite seine Einheit sogar so verdeckt, dass noch nicht einmal die gewöhnlichen Inspektionen der Polizei von ihrer Existenz wüssten. Man habe erst jüngst ein Gaunerpärchen hochgenommen, sie Rumänin, er afghanischer Flüchtling. Bei der Festnahme hätten die beiden eine Tasche mit Goldschmuck und Bargeld - also Beute - dabei gehabt. Und vor allem hätte man bei den Ganoven ein Notizbuch gefunden, in dem die Adresse der Möllers vermerkt gewesen sei. Die Möllers befänden sich also im Fokus einer gefährlichen Betrügerbande, ihr Vermögen sei gefährdet. Aber er, der Oberhauptkommissar Schulz von der ziemlich geheimen Spezialeinheit der Polizei, wolle dem Seniorenpaar helfen.

So oder so ähnlich beginnen viele Geschichten, an deren Ende Menschen im Rentneralter Opfer von Trickbetrügern geworden sind. Die Täter suchen gezielt nach älteren Menschen. Dann servieren sie ihnen via Telefon eine Lügengeschichte. Mal ist ein angeblicher Verwandter in Not und braucht zur Überbrückung dieser unangenehmen Lage kurzfristig finanzielle Unterstützung – der Enkeltrick. Mal sollen die Senioren vor Kriminellen geschützt werden, dazu sollen sie zu ihrer eigenen Sicherheit den vermeintlichen Sicherheitsbehörden ihr Vermögen anvertrauen - wie im Fall der Möllers die aktuell weitverbreitete Mär mit dem falschen Polizisten.

Weit verbreitet: Im Februar registrierte allein die Polizei in München eine ganze Welle solcher Anrufe von Tätern, die sich als Schutzleute ausgaben. Innerhalb von nur drei Tagen wurden den Beamten 400 solcher Telefonate bekannt. Von „einer neuen Dimension“ und „einer nie dagewesenen Welle“ war im Münchener Polizeipräsidium die Rede. Bei dieser jüngsten Welle waren die Täter in vier Fällen erfolgreich und erbeuteten dabei Gold, Schmuck und Bargeld im Wert von mehr als 400.000 Euro. Zehnmal so viel, also Beute im Wert von 4 Millionen Euro, hatten die Trickbetrüger 2018 insgesamt in der bayerischen Landeshauptstadt ergaunert. Bundesweit, so Schätzungen, verursachten im vergangenen Jahr falsche Polizisten einen Schaden von gut 100 Millionen Euro.

Die Betrüger üben bei den Telefonaten von der ersten Minute an großen Druck auf die Angerufenen aus – und kalkulieren die Skepsis der Opfer offensichtlich mit ein, um dieser gleich mit einer ganzen Reihe an Tricks zu begegnen. Wer sich etwa rückversichern will, dass er es wirklich mit der Polizei zu tun hat, wird an eine vermeintliche Telefonzentrale verbunden, über die sich dann der nächste falsche Polizist meldet. Oder die Täter ermutigen die Opfer sogar, die 110 zu wählen, täuschen dann aber nur ein Freizeichen vor und nehmen den vermeintlich neuen Anruf entgegen. Oder sie rufen die Opfer an und gaukeln diesen mittels „Call-ID-Spoofing“ vor, dass die örtliche Polizei anriefe. Oder sie versorgen das Opfer mit der Nummer der vermeintlichen Spezialeinheit - wer diese dann wählt, bekommt mithilfe eines weiteren technischen Ticks eine behördenähnliche Nummer auf dem Display angezeigt. So erging es dem Ehepaar Möller.

„Irgendwann wurde ich misstrauisch und wollte überprüfen, ob ich es wirklich mit der Polizei zu tun habe. Der Mann gab mir eine Nummer, als ich dort anrief, erschien 00110 auf dem Display meines Festnetztelefons. Dann ging jemand ran, der sich als Kollege von Oberhauptkommissar Schulz ausgab und mich gleich wieder an diesen durchstellte“, erinnert sie sich. „In diesem Moment habe ich mein Gehirn ausgeschaltet“, gesteht die 80-Jährige. Zudem gab es da noch diesen Zufall: Nur wenige Tage vor dem Anruf hatten Möllers Hunde tagsüber angeschlagen. Als Hildegard durchs Fenster in den Vorgarten spähte, sah sie in der Einfahrt zu ihrem Grundstück eine Frau mit einem Zettel in der Hand, „irgendwie sah sie rumänisch aus“, dann ging die Frau weg. Wenig später sah sie dann „panikartig, sehr schnell“ einen Mann wegrennen, der zuvor in einem toten Winkel vor der Garage gestanden haben musste. Das vom falschen Polizisten beschrieben Gaunerpärchen?

Oberhauptkommissar Schulz fängt im Verlauf des ersten Anrufs schnell damit an, die Vermögenswerte der Möllers abzufragen. Goldschmuck im Haus? Oder größere Summen an Bargeld? Und wie sieht es mit dem Bankguthaben aus? Denn aktuell würde die Spezialeinheit auch eine betrügerische Sparkassen-Angestellte in Eschwege observieren, diese würde Geld von fremden Kontos abzweigen. Tatsächlich hat das Seniorenpaar im Laufe vieler Jahre einen größeren Betrag ansparen können. Über einen Zuwachssparvertrag, der zufällig in den Tagen vor dem Telefonat zuteilungsreif geworden ist. Und tatsächlich hat Hildegard gerade gehört, dass es auf ihrer Bank zu Ungereimtheiten gekommen sein soll. Der nächste Zufall. Der Druck auf die Möllers wächst. „Sie können uns helfen, außerdem ist ihr Geld in Gefahr“, drängt der falsche Polizist. Und: „Sie dürfen aber mit niemandem darüber reden.“ Abends ruft der Betrüger erneut an, baut weiter Druck auf. Und auch am nächsten Morgen ist er schon am Telefon. Um 6.30 Uhr. Da reicht es dem Ehepaar Möller, und es fährt zur Polizeiinspektion in Eschwege.

Als Hildegard und Ingo dort ihre Erlebnisse schildern, werden die Beamten hellhörig und bitten sofort die Spezialisten vom Betrugsdezernat dazu. Die Polizisten wittern eine Chance, bitten die Möllers, bei einer fingierten Geldübergabe mitzumachen, um so den oder die Täter schnappen zu können. Möllers willigen ein. Dann geht das Katz-und-Maus-Spiel erst richtig los - aber mit vertauschten Rollen. Im weiteren Verlauf des Tages telefoniert Hildegard einige Mal mit dem falschen Schulz, er quetscht sie aus, sie hält ihn hin, gibt die ahnungs- und arglose Seniorin, er fordert und drängelt, sie lässt sich zum Schein darauf ein. Eines dieser Gespräche zeichnet sie sogar auf. Der Mann spricht Deutsch mit perfekter Grammatik – aber mit einem leicht ausländischen Einschlag.

Nach Erkenntnissen der Ermittlungsbehörden operieren die Betrügerbanden, die sich auf den Enkeltrick oder Falscher-Polizist-Aktivitäten spezialisiert haben, aus Callcentern heraus, die zumeist in der Türkei stehen. Der Polizei zufolge spielen generell türkisch dominierte Gruppen in der organisierten Kriminalität eine große Rolle, die Zahl der von ihnen verübten Callcenterbetrugsfälle hat sich bundesweit zuletzt verfünffacht. Und im Sommer vergangenen Jahres hob die türkische Polizei mit Unterstützung durch deutsche Fahnder erstmals eine Bande in Antalya aus. Bei Festnahmen in Deutschland gehen den Behörden aber zumeist nur Laufburschen der Banden ins Netz. Und da sollte auch beim Zugriff in Eschwege der Fall sein.

Mit einem minutiös ausgearbeiteten Plan, der unter anderem zwei Pakete mit weißem Papier beinhaltet, denen die Rolle von 500-Euro-Scheinen in Bündeln zukommt, spielen die Möllers ihr Lockspiel weiter. So überzeugend, dass Oberhauptkommissar Schulz immer weitermacht. Schließlich wird für den nächsten Tag eine Übergabe vereinbart. Die Senioren sollen zur Bank fahren, sich ihren Zuwachssparvertrag auszahlen lassen, das Geld gebündelt in eine Tasche packen und diese an einem Baum hinter der Sparkasse deponieren. Möllers halten sich an die Anweisungen, legen die Tasche mit wertlosem weißen Papier anweisungsgemäß ab, fahren nach Hause. Die Täter haben keine Ahnung davon, dass sie selbst einem Trick aufsitzen. Als der Abholer kommt, schlägt die Polizei zu. Zu diesem Zeitpunkt sitzen die Möllers längst wieder auf dem heimischen Sofa.

Bei aller vermeintlichen Cool- und Cleverness: Was Hildegard Möller mehr Unruhe bereitet, als der fehlgeschlagene Trickbetrug, soll später ihr Auftritt vor Gericht als Zeugin im Verfahren gegen den Abholer sein - übrigens ein kleiner Fisch, die Drahtzieher sind noch heute auf freiem Fuß. Da kommt Roger Dietrich ins Spiel. Dietrich ist Polizist. Und Leiter der Außenstelle des WEISSEN RINGS in Eschwege. Im Vorfeld des Prozessauftakts besucht der 58-Jährige das pensionierte Lehrerehepaar und will ihnen die Scheu vor der Justiz nehmen. „Für jeden, der das erste Mal vor Gericht muss, ist das eine schwierige Situation“, weiß Dietrich. Und er hilft ganz plastisch: Mit Holzstückchen baut er einen Gerichtssaal auf dem Tisch der Möllers nach und erklärt so die Sitzpositionen der Akteure und den Ablauf der Verhandlung – „das Visuelle ist hilfreicher als reine Vorstellungskraft“, davon ist Dietrich überzeugt. Die Holzstückchen nimmt er mit. Und setzt sie in ähnlichen Situationen bei seiner ehrenamtlichen Tätigkeit für den WEISSEN RING immer wieder ein.

„Hildegard hat sich in der Verhandlung gut geschlagen“, berichtet er. Hildegard und Ingo, sagt er zu dem Ehepaar Möller, die beiden nennen ihn Roger. Roger Dietrich ist anwesend im Gerichtssaal, als Hildegard Möller aussagt, Gatte Ingo kann krankheitsbedingt nicht dabei sein. Er bereitet die Geschichte mit dem Ehepaar im Verlauf einiger Treffen nach nach – und dann halten die drei den Kontakt. „Wir sind uns sympathisch. Das passt einfach“, sagt der Polizist. Zudem, so erzählt er, haben die vielen Medienanfragen das Trio weiter zusammengeschweißt: Fernsehteams, Hörfunkreporter, Zeitungsredakteure, sie alle wollten über die Geschichte von den Möllers und den ausgetricksten Austricksern berichten. Denn das Verhalten der Senioren ist dafür geeignet, anderen betagten Menschen Mut zu machen.

Dessen ist sich auch Hildegard Möller bewusst, die ihre Erinnerungen daher auch mal vor den Besuchern einer Präventionsveranstaltung des WEISSEN RINGS ausbreitet. Ihre Kernaussage dabei? „Es war eine wichtige Erfahrung, zu sehen, dass man sich um uns kümmert, uns ernst nimmt, uns unterstützt, sowohl vonseiten der Behörden als auch des WEISSEN RINGS.“ Nach wie vor sind die Möllers auch noch verärgert – weil man sie als Opfer auserwählt hatte allein aufgrund ihres fortgeschrittenen Alters. Doch scheint es ihnen zu gelingen, diese Verärgerung richtig zu kanalisieren und aus ihr Erkenntnisse zu gewinnen. „Wir Senioren sollten nicht allzu ängstlich sein, dafür aber kritisch bleiben. Und zu unseren Schwächen stehen. Etwa dann, wenn man sich im Alter unsicher wird, ob man die Dinge noch richtig einschätzt“, ist Hildegard überzeugt. „Es ist ratsam, misstrauisch zu sein und gleichermaßen Vertrauen zu haben. Etwa in Freunde oder Verwandte. An die sollte man sich unbedingt wenden, wenn irgendwas ist“, ergänzt Ingo die Aussage seiner Frau. Außerdem sind sie sich einig: Selbstüberschätzung ist gefährlich, sich Hilfe zu holen bei „den Profis“, wie sie es nennen, also bei Behörden oder Organisationen wie dem WEISSEN RING, sinnvoll. „Denn gerade unser Fall hat gezeigt, dass das Hilfesystem funktioniert, die verschiedenen Angebot gut ineinandergreifen“, sagt die 80-Jährige.

Hildegard und Ingo Möller wären fast Opfer geworden. Doch sie haben sich dagegen gewehrt, erfolgreich. Die Polizei Hessen hat den beiden im Januar vergangenen Jahres Medaillen verliehen: „Mit Dank für besondere Unterstützung“, besagt deren Prägung. Doch gibt es da nicht dennoch so etwas wie eine Angst vor dem Alter? Davor, als Senior leichte Beute zu sein? Wieder in den Fokus von Trickbetrügern geraten zu können? Oder zu alt zu sein und schwach zu werden? Nein, sagen die Möllers. Und es macht ganz den Anschein, als seien sie nicht nur unbeschadet, sondern vielmehr gestärkt aus der Geschichte mit dem falschen Oberhauptkommissar Schulz herausgekommen. Und als habe sie das Erlebte mit Rüstzeug für künftige Eventualitäten ausstatten können. Ein gesundes Maß an Optimismus, gepaart mit Humor, dringt aus den Worten von Ingeborg Möller, die sie ihren Besuchern an der Tür mit auf den Weg gibt: „Wir haben uns eine gewisse Sicherheit erarbeitet. Jetzt warte ich darauf, dass jemand mit uns was Neues probiert - den Enkeltrick. Das wäre ein Traum.“

Totel-Foto: iStock/Nastasic