Das aufgeschlitzte Leben
An einem idealen Septemberabend kurz vor 23 Uhr endet Youcef Zouraghis Leben. Das Leben, was er zuvor gekannt hat. Das Messer kommt aus dem Nichts. Und ändert alles. Zuerst knallt ihm der Knauf gegen den Hinterkopf. Als Zouraghi sich umdreht, Fragen auf den Lippen, schlitzt ihn der Angreifer auf. Auf offener Straße. Sekunden später quellen aus dem Bauchraum des Algeriers Innereien. Seine Innereien. Zwei Wochen später, als er wieder aus dem Koma erwacht, die Ärzte nennen ihn „Wunder“, ist die bescheidene Existenz, die er sich mühsam erarbeitet hat, noch viel bescheidener geworden. Anfang August, die Attacke ist fast fünf Jahre her, sitzt er vor einem Dönerladen, die Hitze drückt, Zouraghi isst. Langsam, kleine Häppchen. „Das Leben ist gut“, sagt er. Und lächelt etwas gequält, aber freundlich.
"Es hat sich gleich abgezeichnet, dass dieser Fall mit viel Aufwand verbunden sein wird."
Arno Dahms, Mitarbeiter des WEISSEN RINGS
1991 flieht Zouraghi aus seiner Heimat, in Algerien wütet zu diesem Zeitpunkt ein Bürgerkrieg. Als Flüchtling kommt er zunächst ins hessische Bad Schwalbach, dann schicken ihn die Behörden ein Jahr später nach Nürnberg, wo er sich heimisch wird. Zouraghi arbeitet hart, ist sich für nichts zu schade, nimmt jeden Job an, den er bekommen kann. Dann wird er Vater. Sein Sohn Rafik ist ihm alles. Und mehr als Motivation genug, um weiter zu schuften, damit sein einziges Kind später einmal ein besseres Leben führen kann als er selbst. Der Algerier lebt im Stadtteil Gostenhof – Gostanbul nennen ihn manche, wegen der vielen Türken, die hier einst wohnten. Zouraghi schließt Bekanntschaften und findet Freunde, unter Osteuropäern und Schwarzafrikanern, Asiaten und Arabern, Türken und Griechen und Deutschen. Ziemlich jeder im Viertel kennt ihn. Er geht gern in Kneipen, um mit Menschen zu reden.
An einem dieser Abende im Herbst 2013 tritt Zouraghi mit einem Freund vor die Tür eines Cafés um zu rauchen und über Fußball zu diskutieren. Da attackiert ihn der Täter von hinten. Er hat Zouraghi, seinen ehemaligen Nachbarn, seinen Landsmann, der nur ein Stockwerk unter ihm gelebt und der ihm schon so oft geholfen hatte, mit vier weiteren Namen auf eine Todesliste geschrieben. Zouraghis Name stand ganz oben. Im Prozess vor einer Nürnberger Schwurgerichtskammer wird dem Mann später eine schizophrene Psychose attestiert. Zouraghi überlebt nur durch Zufall: In der Nähe, keine 200 Meter vom Tatort entfernt, ist ein Notarzt an einem Altersheim im Einsatz. Er rettet sein Leben.
Das Gericht schickt den Täter – „er hatte Probleme, viele Probleme“ sagt sein Opfer, als wolle es ihn entschuldigen – am Ende des Prozesses in die geschlossene Abteilung einer Psychiatrie, nicht ins Gefängnis. Zu einem solchen ist dagegen mittlerweile das Leben von Youcef Zouraghi geworden. „Es hat sich gleich abgezeichnet, dass dieser Fall mit viel Aufwand verbunden sein wird“, sagt Arno Dahms. Der 68-Jährige sitzt im Park gegenüber von Zouraghis Wohnhaus. Laubengänge in praller Sonne, die Bäume verlieren nach der Dürreperiode schon im August ihre Blätter, auf den Bänken in der Nähe treffen sich zur Mittagszeit Menschen, um Bier zu trinken. Dahms wirkt äußerlich hart, drahtig, aufgeknüpftes Hemd, unter dem dicke Ketten sichtbar werden, auffälliges Geschmeide an den Fingern und um die Handgelenke. 40 Jahre lang war er Polizist. Erst Präzisionsschütze bei den Spezialeinheiten, dann Kripobeamter in Nürnberg – eine Karriere, bei der man sich keine Schwächen erlauben, nicht weich sein darf. Wenn Dahms von Zouraghi erzählt, seinem Fall – „nach so langer Zeit muss man sich ja gegenseitig zwangsläufig auch als Freunde bezeichnen“, sagt er verschmitzt –, tobt es in ihm und aus ihm heraus. Weil die Behörden seinen Fall-Freund seiner Meinung nach so schmählich im Stich gelassen haben, weil der Ex-Beamte von Justiz und Verwaltung enttäuscht, weil dem Algerier so viel Unrecht im Leben geschehen ist.
Nach dem Ende seiner Dienstzeit vor etwa sieben Jahren wird Dahms Mitarbeiter beim WEISSEN RING. Rund 40 Fälle betreut er pro Jahr für die Außenstelle Nürnberg. Zur Opferhilfeorganisation ist er gestoßen, weil er im Laufe seiner Karriere als Zeuge so einige Stunden in Gerichtssälen verbracht hatte, dort mitansieht, wie Täter gleich mit drei Rechtsanwälten in Maßanzügen zur Verhandlung auftauchen, während viele ihrer Opfer alleingelassen auf der Zeugenbank Platz nehmen. „Unsere erste Begegnung war für mich sehr erschütternd“, sagt Dahms, „Zouraghi kommt zu mir, schildert mir nur grob, was passiert ist, dann bricht er in Tränen aus. Ich wusste von der ersten Minute an, dass er Fürchterliches erlebt haben muss. Da habe ich zu ihm gesagt: ,Wir werden was finden, um Dir zu helfen‘. Und seitdem stehe ich bei ihm im Wort.“
Das ist im Frühjahr 2014, wenige Monate nach der Tat, als Zouraghi dringend Hilfe benötigt und sowohl sein Sohn als auch der Polizist, der seinen Fall bearbeitet, ihm nachdrücklich anraten, sich an den WEISSEN RING zu wenden. In den vier Folgejahren investiert Dahms Kraft und Zeit in den Fall Zouraghi. Viel Zeit. „Hunderte Stunden“, beziffert er grob seine Investition. Er unterstützt den Algerier in Sachen Rechtsberatung und beim Prozess, begleitet ihn zu Behörden und zu Ärzten und Therapeuten, besorgt dem heute 58-Jährigen eine Wohnung, kümmert sich darum, dass die Opferhilfeorganisation den Umzug und einen Teil der Wohnungseinrichtung bezahlt, weil Zouraghi mittlerweile von der Grundsicherung leben muss. Wenigstens ein Dach über dem Kopf, zwei Zimmer im obersten Geschoss, Küche, Bad. Die Wohnung teilt sich der Algerier mit seinem Sohn Rafik, der jetzt gerade eine Ausbildung beginnt, während er auf seinen Studienplatz für Psychologie warten muss. „Zouraghi ist für mich ein ganz außergewöhnlicher Fall – durch die Tat und die schweren seelischen Folgen, die nach wie vor bei ihm vorhanden sind“, erzählt Dahms.
Seinen Freund Zouraghi besucht der ehemalige SEK-Beamte auch regelmäßig außerhalb seines Ehrenamtsdienstes. Kaffee und Kuchen bringt er zumeist mit, dann sitzen die beiden Männer in der winzigen Küche und reden. „Herr Dahms“, sagt Zouraghi, aus seiner erschöpften Mine wird eine heitere, als er seinen Betreuer an der Tür in Empfang nimmt. Sie umarmen sich zur Begrüßung. Dann reden sie wieder. Heute gibt es wegen der großen Hitze Schafskäse und Tomaten. Der Algerier reicht seinem Gast ein Küchenmesser mit spitzen Fingern und tritt gleich einen Schritt zurück. „Problem mit Messer“, sagt er und lächelt gequält. Irgendwann später steht Zouraghi am Fenster seiner Küche und raucht. „Rauchen ist gut, das hilft mir“, betont er. Da ihm, dem Grundgesicherten, nicht viel zum Leben bleibt, stopft er jetzt seine Zigaretten. Billiger Tabak, billige Hülsen, ein Hauch von Luxus zum Discounterpreis.
"Wir werden was finden, um Dir zu helfen. Und seitdem stehe ich bei ihm im Wort."
Arno Dahms
Als Dahms und Zouraghi später durchs Viertel spazieren, werden die Tatfolgen sichtbar. Beim Gehen knickt Zouraghis Hüfte ein, er zieht das rechte Bein nach. Die 28 Zentimeter lange Klinge, mit der sein Landsmann ihn attackiert, beschädigt mehrere Gefäße unterhalb der rechten Kniekehle, durchtrennt Bänder, „er hat Zouraghis Bein und dann auch noch den Arm mit dem Küchenmesser regelrecht perforiert“, schildert Dahms. Dann sind da die psychischen Schäden: Schlafstörungen, Angstzustände. Das Gefühl, sich in der Öffentlichkeit immer wieder umdrehen oder die Straßenseite wechseln zu müssen, wenn jemand hinter ihm läuft. „Wenn sich Menschen streiten, gehe ich sofort weg. Ich habe dann Angst“, sagt der Algerier. Manchmal blitzt in ihm auf, was in seinem Kopf passiert ist, während er im Koma lag, erzählt er – Bilder aus einer schöneren, besseren Welt, in die er sich jetzt hin und wieder flüchtet. Auch heute noch kann er ohne Medikamente nicht schlafen. Ab und an gräbt er sich tagelang in seiner Wohnung ein, geht nicht ans Telefon, auch dann nicht, wenn Dahms ihn anruft. Während seiner Zeit im Krankenhaus nimmt er 30 Kilo ab, danach bekommt er eine Psychotherapie, „die hat mich wieder aufgerichtet“, ist er sich sicher.
Was er im Anschluss an die Tat erlebt, haut ihn fast wieder um. Zouraghi gerät ihn einen Mahlstrom. „Beim Jobcenter haben sie ihm zu verstehen gegeben, dass er nicht mehr gebraucht wird. Er darf aus ärztlicher Sicht nicht mehr als zwei Stunden am Tag arbeiten“, sagt Dahms, und schaltet wieder in den Angriffsmodus. „Das Sozialamt hat ihn zum Versorgungsamt geschickt, um Rente zu beantragen. Dort hat man ihm dann wieder gesagt, dass es dafür noch zu früh sei.“ Mittlerweile ist Zouraghis Antrag auf Verrentung bereits zum dritten Mal abgelehnt worden. Einen Antrag auf Hilfe nach dem Opferentschädigungsgesetz bescheidet das dafür zuständige Zentrum Bayern Familie und Soziales erst nach eineinhalb Jahren. Man gesteht ihm eine Rente von etwas mehr als 100 Euro zu. Demnächst muss sich Zouraghi einem Gutachter vorstellen – der soll überprüfen, ob er diesen finanziellen Steigbügel denn wirklich und überhaupt noch benötigt.
Mittlerweile sind Zouraghi und Dahms auf ihrer kleinen Runde durch Viertel und Hitze am Tatort angekommen. Der Algerier hält sich für einen Moment erschöpft an einer Laterne fest, unmittelbar neben seinem ehemaligen Lieblingscafé, da, wo alles passiert ist. Er steht im Schatten, fragil. Einer, der hier mal aufgeschlitzt wurde. Zwei ältere Männer, die vor dem Gastraum auf der Straße stehen und rauchen, beäugen ihn misstrauisch. Zouraghi schüttelt sich, schüttelt die fragenden Blicke in seinem Rücken ab, schlürft ein paar Schritte weiter an die Stelle des Gehwegs, wo sich eine Zäsur in sein Leben gebrannt hat und sein Blut über den Beton gelaufen ist. Dahms tritt neben ihn. Während sein Fall-Freund gestenreich die Gespenster der Vergangenheit auferstehen lässt, von jenem Abend erzählt, versucht, zu begreifen - „ich habe doch nie jemandem etwa getan“, sagt er, Tränen trüben seinen Blick -, hört der Ex-Polizist, ganz Freund und Helfer in diesem Augenblick, angestrengt zu, auch wenn er die Geschichte schon so oft gehört hat, streicht sich ab und an durch den Bart, als wäre er verlegen.
„Hier im Erdgeschoss hat eine Frau gewohnt, die stand damals zufällig am Fenster und hat alles gesehen“, sagt Zouraghi. Im Prozess ist die Frau als Zeugin geladen, sie will zunächst nicht aussagen. Aus Angst: Als der Angreifer sie an jenem Abend erblickt, deutet er ihr mit dem Daumen an, wie er ihr die Kehle durchschneidet. Unbekannt verzogen - zwei Monate nach Prozessende taucht die Frau samt Familie ab, räumt ihr Zuhause. Auch Zouraghi hält es hier nicht länger, die Stadt hat bessere Orte zu bieten. Es tritt wieder aus dem Schatten, geht weiter durch Straßen, in denen die gnadenlose Nachmittagssonne die Luft über dem Asphalt zum Flirren bringt, wo ab und an ein Passant oder ein Gast in einer der zahlreichen Kneipen Zouraghi etwas zuruft oder -winkt.
Die Männer kommen an einer Baustelle vorbei, ein Schild besagt, dass das Zentrum Bayern Familie und Soziales dort einen Neubau errichtet. „Ich bin nicht enttäuscht von Deutschland“, sagt der Algerier, als sein Blick auf die Arbeiten fällt. „Ich bräuchte noch eine Therapie, die Krankenkasse will aber nicht zahlen. Ich würde gern wieder arbeiten, wenigstens zwei Stunden am Tag. Das wäre gut für meinen Kopf. Ich finde aber nichts. Doch es gibt viele andere Menschen, die Probleme haben, auch viele Deutsche. Enttäuscht bin ich von den Behörden“. Zu diesen Enttäuschungen in Zouraghis neuem Leben dürfte auch die Ausländerbehörde in Nürnberg zählen. War der Algerier über einen langen Zeitraum jeweils für drei Jahre geduldet, so muss er seit einem nicht genau bestimmbaren Moment nach der Tat nun plötzlich alle drei Monate eine neue Duldung beantragen, wie Dahms erzählt. „Ich habe keine Ahnung, warum sich das auf einmal geändert hat. Wenn er das nächste Mal vorgeladen wird, gehe ich mit. Dann hefte ich mir das Schild vom WEISSEN RING ans Hemd und mache Druck“. Angriffsmodus.
"Das Leben ist gut."
Youcef Zouraghi
Warum er nicht komplett zerbrochen ist? An seinem Trauma? An der Grobmaschigkeit des sozialen Netzes, durch das er nach der Tat gefallen ist? „Meine Freunde haben mir geholfen“, beginnt Zouraghi seine Aufzählung. Mittlerweile hat er vor einem Dönerladen Platz genommen, etwas zu essen bestellt. Das Kalbfleisch in diesem Imbiss ist ausgezeichnet, meint er. 75 Menschen hätten ihn im Krankenhaus besucht, ein Kommen und Gehen sei das gewesen, irgendwann habe ihn ein Arzt gefragt, ob er ein Prominenter sei, vielleicht ein Sänger. „Ich habe ihm gesagt, dass ich eine Reinigungskraft bin“, sagt Zouraghi, und seine Augen funkeln. Auch Allah sei eine Stütze gewesen, „ich glaube an solche Sachen“, vergewissert er sich selbst. „Und bei großem Stress, wie etwa um eine Wohnung zu finden, war Herr Dahms da. Ich gehe allein aufs Amt, dreimal, viermal, nichts passiert. Wenn ich mit Herr Dahms hingehe, klappt auf einmal fast alles. Und sofort.“ Dann fängt er an zu essen, immer nur kleine Happen, die Organe in seinem Inneren sind vor Jahren zusammengeflickt worden, seine Seele noch lange nicht. „Das Leben ist gut“, sagt er. Und lächelt etwas gequält, aber freundlich.