Ein Schrein für Susanna
Die Sonne scheint, und über Daria Feldmans Gesicht ziehen Schatten. Schmerz. Trauer. Verlust. Ihre Gefühle überwältigen sie, wie so oft. Sie steht am Rande eines Feldwegs. Dort haben Menschen ihrer Tochter einen Schrein errichtet. Nur wenige hundert Meter von dieser Stelle entfernt wurde sie gefunden. Missbraucht. Ermordet. Verscharrt. Susanna Feldman wurde nur 14 Jahre alt.
Daria Feldman trägt eine Kette in Herzform. Vorn ist das Gesicht von Susanna aufgedruckt. Auf der Rückseite steht: Für immer und ewig. Für immer und ewig – jetzt erst, mehr als ein Jahr nach der Tat, wird Feldman allmählich klar, was diese Worte bedeuten. „Dass es kein Zurück mehr gibt“, sagt sie mit leiser Stimme. Dass sie mit ihrer Trauer und ihrem Schmerz irgendwie klarkommen muss, um weiterleben zu können. Dass sie stark sein muss, um sich um ihre zweite Tochter, fünf Jahre alt, zu kümmern.
Susannas Tod hatte international Aufsehen erregt. Die Geschichte befeuerte auch die Debatte um die Flüchtlingspolitik. Rechte, islam- und fremdenfeindliche Kräfte instrumentalisierten den Tod der 14-jährigen Schülerin für ihre Zwecke. Denn ermordet wurde Susanna von einem Flüchtling aus dem Irak. Der 22-Jährige wurde vor dem Landgericht in der Hessischen Landeshauptstadt zu lebenslanger Haft verurteilt, nachdem ein Gutachten ihn für voll schuldfähig befunden hatte. Zahlreiche Medien hatten berichtet, sowohl von dem Prozess als auch von dem Fund der Leiche Susannas an einer Bahnstrecke knapp außerhalb von Wiesbaden-Erbenheim.
Und von der Flucht des Mörders in seine Heimat, von dessen Verhaftung durch kurdische Sicherheitskräfte und von der spektakulären Rückholaktion durch den Präsidenten des Bundespolizeipräsidiums Dieter Romann. Jedes Detail der Tatnacht wurde ausgebreitet, jede Minute der Tage danach protokolliert, als Susanna einfach nicht nach Hause kam, ihre Mutter sich vor Verzweiflung nicht mehr zu helfen wusste und sich selbst auf die Suche nach ihrem Kind machte. „Meine mütterlichen Gefühle haben mir von Anfang an gesagt, dass da etwas Schlimmes passiert ist. Aber ich habe das von mir weggeschoben. Ich hatte Hoffnung.“ So viele Fakten, die auf sie einstürmten, mit denen Daria Feldman immer und immer wieder konfrontiert wurde. Und die ihr immer noch so schmerzlich präsent sind. An viele kann sie sich äußerst präzise erinnern. Etwa an den Moment, als in den Tagen nach Susannas Verschwinden mal wieder die Polizei bei ihr in ihrer Wohnung im Mainzer Stadtteil Lerchenberg zu Gast ist. „Eine Beamtin saß mir am Nachmittag des 6. Juni gegenüber und redete gerade mit mir über den aktuellen Stand der Suche. Und dann, ziemlich genau um 14 Uhr, klingelte ihr Handy“, schildert Feldman.
Die Polizistin geht ran, hört zu, wendet sich mit stockender Stimme an Feldman. Man habe gerade eine weibliche Leiche gefunden. „Die Polizistin hatte Tränen in den Augen“, erzählt Feldman. Eine Situation, mit der man allein nur schwerlich umgehen kann.
"Ich hatte Hoffnung."
Daria Feldman
Daria Feldman wurde aufgefangen, soweit es möglich war, wie sie selbst sagt, traf auf Menschen, die ihr in ihrer Agonie zur Seite standen. Ihr Lebensgefährte. Oder Mitarbeiter des WEISSEN RINGS. Die Wiesbadener Mordkommission informierte die örtliche Außenstelle der Opferhilfeorganisation noch am Fundtag der Leiche über die jüngsten Entwicklungen. Nur wenig später kam der erste Kontakt zu Daria Feldman zustande. „Das ist wichtig, dass wir schnell bei den Leuten sind. Auch wenn das für uns selbst manchmal nur schwer zu ertragen ist“, sagt Rudi Glas, Leiter der Wiesbadener Außenstelle. Zahlreiche Besuche sollten folgen. Viele Gespräche, um Feldman zu signalisieren: Wir lassen dich nicht allein. Und zahlreiche konkrete Hilfestellungen in diesen Stunden. „Eine Woche vor Beginn des Mordprozesses haben wir mit Frau Feldman den Gerichtssaal besichtigt“, schildert Glas. Im Verlauf der 16 Verhandlungstage standen er und sein Stellvertreter Peter Holzbauer stets an Feldmans Seite, spendeten ihr Trost, gaben ihr Stärke, reichten ihr Taschentücher.
Überhaupt ist der Mordprozess gegen den jungen Flüchtling, den Mörder ihrer Tochter, eine enorme Herausforderung. Der sie sich aber bewusst stellt. „Ich habe das als Pflicht empfunden. Um verstehen zu können, was ihr angetan wurde. Und um mit ihr so ihre Schmerzen, ihre Angst zu teilen. Die Bilder, die dabei vor Gericht in meinem Kopf entstanden sind, verfolgen mich bis heute“, schildert Feldman. Dennoch wohnt sie dem Prozess tapfer bei, nur einen Verhandlungstag versäumt sie. Bei der Urteilsverkündung wendet sich der Vorsitzende Richter an sie: „Dass Sie sich der Herausforderung dieses Prozesses gestellt haben, nötigt mir persönlich besonderen Respekt ab.“
Daneben unterstützt der WEISSE RING Susannas Hinterbliebene auch finanziell. Die Organisation nimmt etwa einen großen Teil der Kosten für Susannas Grabstein. „Ich wollte einen besonderen Grabstein für sie“, erläutert Daria Feldman, „sie ist schließlich auch die Jüngste, die auf dem jüdischen Friedhof in Mainz begraben ist.“ Dann schickt der WEISSE RING Daria Feldman, ihre Fünfjährige und den Lebensgefährten in einen Kurzurlaub. Abstand gewinnen, auch räumlich.
„Mir selbst hat das zwar so gut wie nichts gebracht – meine Trauer und meine Schmerzen waren größer als alles andere. Aber für die Kleine war dieser Kurzurlaub wichtig“, sagt Feldman. Überhaupt ist es eine enorme Herausforderung für die Mutter, die kleine Tochter mit dem Tod der großen zu konfrontieren. „Sie hat das erst einigermaßen gut aufgenommen. Zumindest dachte ich das. Einen Monat später war alles anders“, sagt Feldman. Die Kleine wird von Verlust- und Trennungsängsten überwältigt, kann zeitweise nicht mehr in die Kita gehen, übergibt sich ständig. „Ich habe das selbst bei einem meiner Besuche erlebt“, sagt Glas. Doch dann gewinnt die Fünfjährige überraschend an Stärke, trotz der posttraumatischen Belastungsstörung, die ihr der Psychologe attestiert, den sie einmal in der Woche aufsucht. „Erst hatte sie Angst, dann hat sie für mich eine Beschützerrolle übernommen. Sie war davon überzeugt, mich trösten zu müssen“, erzählt die Mutter. Die Kleine malt ihrer toten Schwester Bilder, die sie bei den zahlreichen Besuchen an Susannas Grab niederlegt.
An Susannas erstem Todestag lässt die Familie zwölf weiße Luftballons in den Himmel steigen. Einen für jeden Monat, den sie nicht mehr da ist. Wie geht es jetzt weiter? Zunächst einmal will Außenstellenleiter Glas Daria Feldman dabei helfen, Opferentschädigung vom Staat zu bekommen. „Wir wollen zusehen, dass sie wenigstens eine Minirente bekommt. Wir bleiben dran“, betont Glas. Der entsprechende Antrag nach dem Opferentschädigungsgesetz ist längst gestellt. „Aber das ist normalerweise eine recht langwierige Geschichte“, sagt der ehemalige Kriminalpolizist.
„Ich habe Susanna an ihrem Grab versprochen, dass der Mörder bestraft wird.“
Daria Feldmann
Daria Feldman ist seit der Tat in Psychotherapie. „Mir wurde gesagt, dass es gegen diese Trauer und diesen Schmerz leider keine Medikamente gibt. Aber ich will mich sowieso nicht mit Medikamenten ruhigstellen. Meine Kleine braucht mich“, sagt Feldman. Kann man verzeihen? Etwa den Jugendlichen, die Teil der Clique waren, zu der der Täter und irgendwie auch Susanna gehörten und die weder der Polizei bei der Suche noch dem Gericht bei der Aufarbeitung des Falls halfen? „Die müssen jetzt mit ihrem eigenen Gewissen leben“, sagt Feldman. Und der Täter? „Ich habe im Gerichtssaal oft versucht, seinen Blick zu fangen, um ihm mit den Augen zu verstehen zu geben, wie groß mein Schmerz ist. In 16 Verhandlungstagen hat er mich kein einziges Mal angeschaut.“
Mit dem Urteil ist wenigstens ein wenig Gerechtigkeit in Daria Feldmans Leben eingekehrt, Genugtuung darüber, dass die grausame Tat an ihrem Mädchen nicht ungesühnt geblieben ist. „Ich habe Susanna an ihrem Grab versprochen, dass der Mörder bestraft wird“, sagt sie. In den sozialen Netzwerken ist Feldman recht aktiv. Mischt sich ein. Erzählt Susannas Geschichte. Führt ein öffentliches Online-Tagebuch, um dort ihren Schmerz zu verarbeiten. Durchaus auch eine Gratwanderung, die ungewollten Widerhall in politischen Echokammern verursacht, in denen gegen Flüchtlinge gehetzt wird.
Was ihr sonst noch bleibt, ist, Susanna irgendwie nah zu sein. Auf dem Friedhof etwa, den sie jede Woche besucht, manchmal mehrmals. Oder an dem improvisierten Schrein, der für Susanna am Rande des Feldwegs errichtet worden ist. Dort steht Daria Feldman in der Sonne, Schatten ziehen über ihr Gesicht. Sie legt einen Strauß Blumen ab. Andere haben dort Engelsfiguren aufgestellt. Oder Herzchen hingelegt, auch selbst verfasste Gedichte. Der Schmerz überwältigt sie. Wie so oft. Nur wenige hundert Meter von dieser Stelle entfernt hat man ihre 14-jährige Tochter gefunden, verscharrt neben Bahngleisen. Dann dreht sich Daria Feldman um und macht sich auf den Heimweg. Ihre zweite Tochter wartet schon auf sie.