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Wissenswertes zum Sozialrecht
Auf dieser Seite finden sich Informationen zum Sozialen Entschädigungsrecht, weiteren sozialpolitischen Fragestellungen und zu relevanten Positionspapieren des WEISSEN RINGS.
Soziales Entschädigungsrecht
Opfer von vorsätzlichen rechtswidrigen Gewalttaten haben Anspruch auf Leistungen nach dem Sozialen Entschädigungsrecht, wenn sie durch die Tat gesundheitliche Schäden erlitten haben. Das Soziale Entschädigungsrecht ist im Sozialgesetzbuch Vierzehntes Buch (SGB XIV) geregelt. Opfer haben, entgegen des Wortlauts, vor allem einen Anspruch auf Versorgung und nicht nur auf Entschädigung.
Dieser Anspruch auf Versorgung bedeutet eine soziale Sicherung, die auch dann greift, wenn durch die Tat gravierende und lang andauernde gesundheitliche Belastungen entstanden sind. Das Gesetz bietet eine sehr gute Versorgung, die über die Leistungen der gesetzlichen Krankenkassen hinausgeht.
Das Soziale Entschädigungsrecht wurde nach einem mehr als zehn Jahre andauerenden politischen Prozess im Jahr 2019 reformiert. Ziel war, die guten Leistungen zu erhalten, Verschlechterungen zu verhindern und gleichzeitig notwendige Verbesserungen zu erreichen. Einige der wichtigsten Forderungen des WEISSEN RINGS wurden hierbei berücksichtgt, vor allem die Einbeziehung des Tatbestandes der psychischen Gewalt. Der WEISSE RING hat diesen politischen Prozess sehr eng begleitet, u. a. mit der Kampagne "Opferrechte sind Menschenrechte", die in der Öffentlichkeit beachtliche Aufmerksamkeit fand.
Die politische Entwicklung des Sozialen Entschädigungsrechts der letzten Jahre
2019
Das Bundeskabinett hat am 26. Juni 2019 den Gesetzentwurf zur Regelung des Sozialen Entschädigungsrechts beschlossen. Seit Jahren setzt sich der WEISSE RING für die Rechte der Opfer und den Erhalt der guten Leistungen ein. „Als Ergebnis eines fortgesetzten und konstruktiven Austauschs zwischen dem WEISSEN RING und dem Bundesozialministerium von Hubertus Heil ist jetzt ein Soziales Entschädigungsrecht auf den Weg gebracht worden, das Opfern von Kriminalität und ihren Angehörigen entscheidende Verbesserungen bringen wird. Wir haben an diesem Gesetzgebungsverfahren intensiv mitgearbeitet und freuen uns daher umso mehr, dass unsere Kernforderungen - also die Inhalte, die für Betroffene von besonderer Bedeutung sind – bei der Novellierung des Entschädigungsrechts berücksichtigt worden sind“, sagt Jörg Ziercke, Bundesvorsitzender des WEISSEN RINGS.
So wird z.B. der Kreis der Berechtigten erweitert: Opfer schwerer psychischer Gewalt (u.a. bestimmte Fälle von Stalking) sollen zukünftig auch Leistungen erhalten. Die Entschädigungszahlungen sollen deutlich erhöht werden. Außerdem werden die Traumaambulanzen gesetzlich normiert. Es wird ein flächendeckendes Angebot geschaffen und Opfer sollen einen Anspruch auf psychologische Frühintervention haben.
Dennoch zeigt sich in der Arbeit des WEISSEN RINGS, dass in der Praxis gerade das Verwaltungsverfahren die Durchsetzung der Leistungen (z.B. wegen der Dauer der Verfahren) erschwert. Hier gibt es noch Verbesserungsbedarf. Jetzt gilt es, den Regierungsentwurf in seiner vorliegenden Fassung vom 26.06.2019 in breitem Konsens im Bundesrat und Bundestag zu verabschieden und weitere Verbesserungen zu erzielen.
2018
Im Januar 2017 legte das Bundesministerium für Arbeit und Soziales einen ersten Arbeitsentwurf zur Regelung des Sozialen Entschädigungsrechts vor. Dieser unterscheidet sich grundlegend von den bisherigen Regelungen.
Eine Stellungnahme des WEISSEN RINGS zu dem Ersten Arbeitsentwurf eines Gesetzes zur Regelung des Sozialen Entschädigungsrechts finden Sie hier. Im Juli 2018 bringt der Verein einen eigenen Entwurf für eine bessere Opferentschädigung heraus. Der Entwurf zeigt Wege auf, wie Opfern von Straftaten schneller, effektiver und umfassender als bisher geholfen werden kann.
2017
Der Deutsche Sozialrechtsverband hat sein 49. Kontaktseminar vom 20. bis 21. Februar 2017 dem Thema "Abschied von der Kriegsopferversorgung - Aufbruch zum neuen sozialen Entschädigungsrecht" gewidmet. Den Vortrag der Bundesvorsitzenden des WEISSEN RINGS, Frau Roswitha Müller-Piepenkötter, mit dem Titel "Warum brauchen wir ein neues Soziales Entschädigungsrecht - das Leitgesetz des BVG als Auslaufmodell?" sowie den Vortrag von Frau Barbara Wüsten, Referatsleiterin Opferrechte, Internationales und Ehrenamt zu "Einmalzahlungen" stellen wir hier zur Verfügung. Die Artikel sind erschienen im Sonderheft 2017 Sozialrecht aktuell des Nomos Verlages.
Statistiken zur Opferentschädigung
Basierend auf Behördenangaben erstellt der WEISSE RING jedes Jahr eine Statistik zur staatlichen Opferentschädigung – mit ernüchterndem Ergebnis: Nur ein Bruchteil der Berechtigten beantragt Leistungen nach dem OEG.
Medizinische Versorgung
Häufig erster Ansprechpartner für die medizinische Versorgung sind die gesetzlichen Krankenkassen. Im Bereich der psychotherapeutischen Versorgung bestehen jedoch Lücken, die es zu schließen gilt. Der WEISSE RING hat deshalb auch Forderungen zur psychotherapeutischen Versorgung von Kriminalitätsopfern erarbeitet.
Sozialrechtliche Forderungen des WEISSEN RINGS
(Stand Juli 2021)
Opferrechte sind Menschenrechte. Opfer sind Rechteinhaber, sie müssen bei der Inanspruchnahme ihrer Rechte unterstützt werden. Dies ist das Recht auf Entschädigung.
„Der Übergang von einer bedürfnisorientierten Rhetorik zur menschenrechtsorientierten Sprache verändert die Beziehung zwischen dem Opfer und dem Staat grundlegend. Das Opfer bittet nicht mehr um Hilfe aufgrund seiner Verwundbarkeit, seiner dringenden Bedürfnisse und seiner Bedürftigkeit, sondern fordert die Erfüllung der Verpflichtung des Staates für auf seinem Territorium lebende Personen und die Menschenrechte ein. Der Staat ist nicht mehr in der bequemen und bevormundenden Position eines mehr oder weniger großzügigen barmherzigen Samariters, sondern ein Pflichtenträger, der den unter seiner Gerichtsbarkeit lebenden, mit Rechten ausgestatten Personen verpflichtet ist.“
(Bericht der Sonderberaterin Joëlle Milquet an den Präsidenten der Europäischen Kommission, Jean-Claude Juncker – März 2019 „Stärkung der Rechte von Opfern: von der Entschädigung bis zur Wiedergutmachung“; unter Hinweis auf: FRA (2019), „Justice for victims of violent crime. Teil I: Victims’ rights as standards of criminal justice“ Luxemburg, Amt für Veröffentlichungen der Europäischen Union)
A. Umfang des Leistungsanspruchs
1. Psychische Gewalt als OEG-Tatbestand
Nach § 13 Abs. 1 Nr. 2 des Sozialgesetzbuchs Vierzehntes Buch (SGB XIV) wird ab 2024 auch wer eine gesundheitliche Schädigung durch ein sonstiges vorsätzliches, rechtswidriges, unmittelbar gegen die freie Willensentscheidung einer Person gerichtetes schwerwiegendes Verhalten eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, eine Entschädigung erhalten.
Diese Regelung ist zum einen nicht ausreichend, zum anderen greift sie mit Inkrafttreten am 01.01.2024 zu spät.
Anerkannte kriminalstatistische und medizinstatistische Untersuchungen (vgl. Günter Deegener, Psychische Folgeschäden nach Wohnungseinbruch, Mainzer Schriften zur Situation von Kriminalitätsopfern 15, 1996) haben ergeben, dass Opfer nach Wohnungseinbrüchen vielfach behandlungsbedürftige seelische Belastungen mit Krankheitswert erleiden. Es handelt sich beim Wohnungseinbruch nicht um einen vorsätzlichen tätlichen Angriff gegen eine bestimmte Person, aber um ein Delikt, das – wie die in § 1 Abs. 2 OEG genannten Delikte – oft oder sogar typischerweise dieselben Wirkungen hat. Der Täter dringt in die verfassungsrechtlich geschützte Privatsphäre des Opfers ein und verletzt damit das für die Lebensqualität wichtige Sicherheitsgefühl.
Deshalb müssen Opfer von Wohnungseinbrüchen leistungsberechtigt sein.
Dies gilt aber ebenso für weitere Personengruppen. Auch Betroffenen von Stalking, Erpressung oder Bedrohung oder anderen psychischen Gewalttaten, die durch derartige Straftaten eine psychische Beeinträchtigung erleiden, müssen Leistungen erhalten. Hiermit ist keine unbegrenzte Leistungsausweitung verbunden, da die Entschädigungsleistungen gesundheitliche Folgen der Taten voraussetzen.
Forderungen:
- Jede Form von psychischer Gewalt muss zu Leistungen berechtigen.
- Die in § 13 SGB XIV geregelten Tatbestände müssen ab dem Tag nach der Verkündung des SGB XIV im Bundesgesetzblatt zu Leistungen nach dem aktuell geltenden OEG/BVG berechtigen.
- Für Fälle, die vor diesem Zeitpunkt geschehen sind, muss eine Härtefallregelung geschaffen werden. Dies muss namentlich für Opfer gelten, die mit einer Schusswaffe oder mit einer Scheinwaffe bedroht worden sind, was nach der einschlägigen BSG-Rechtsprechung bei der gegenwärtigen OEG-Gesetzeslage keinen schädigenden Vorgang darstellt.
2. Gleiche Leistungen für Inlands- und Auslandstaten
Das OEG hat im Laufe seiner Geschichte viele Gruppen ausländische Bürgerinnen und Bürger, die in Deutschland Opfer einer Gewalttat werden, in den Kreis der Berechtigten aufgenommen. Durch die Novellierung des Sozialen Entschädigungsrechts sind ausländische Staatsangehörige rückwirkend seit dem 01.07.2018 deutschen Staatsangehörigen völlig gleichgestellt. Diese Weiterentwicklung des OEG hatte bisher keine ebenso positiven Auswirkungen für deutsche Staatsangehörige. Werden sie Opfer einer Gewalttat im Ausland, haben sie nur einen eingeschränkten Anspruch auf Leistungen nach dem OEG und sind im Übrigen auf Leistungen nach den Entschädigungsregelungen des Tatortstaates angewiesen. Diese Leistungen sind zudem auf die Leistungen nach dem OEG anzurechnen. Aber selbst in Staaten der Europäischen Union existieren solche Entschädigungsregelungen nicht flächendeckend.
Die Ausweitung des OEG auf Taten im Ausland durch das 3. OEG-Änderungsgesetz ist eine bedeutende Verbesserung für Opfer vorsätzlicher Straftaten. Sie stellt einen wichtigen ersten Schritt dar. Erforderlich ist aber eine Anpassung der Leistungen für Auslandstaten an das Leistungsniveau für Inlandstaten. In Zeiten der Globalisierung und Weltoffenheit ist es erforderlich, deutschen Staatsangehörigen auch dann volle Leistungen des OEG zu gewähren, wenn sie im Ausland Opfer einer Gewalttat werden.
Zu dem vollen Leistungsanspruch für Taten im Ausland gehört dann auch die psychotherapeutische Frühintervention im Ausland.
Im SGB XIV ist eine Gewährung Schneller Hilfen in solchen Fällen nur im Inland vorgesehen. Damit gibt es beispielsweise keine traumatherapeutische Behandlung im Ausland nach einem Terrorangriff. Gerade bei einer Gewalttat im Ausland ist die unverzügliche therapeutische Betreuung aber notwendig, da das stützende soziale Umfeld fehlt.
Erforderlich ist ferner ein Rechtsanspruch auf im Ausland tatbedingt angefallene Kosten der Krankenbehandlung, sofern diese nicht anderweitig abgedeckt sind. Die reine Möglichkeit der Kostenerstattung ist nicht ausreichend.
Forderungen:
- Für Taten im Ausland müssen die vollen Leistungen nach dem OEG/BVG und ab 2024 nach dem SGB XIV gewährt werden.
- Psychotherapeutische Frühintervention muss bereits im Ausland gewährt werden.
- Es muss ein Rechtsanspruch auf Erstattung von im Ausland angefallenen tatbedingten Kosten der Krankenbehandlung bestehen.
3. Gleiche Leistungen für Fälle vor Inkrafttreten des OEG/BVG
Auch Opfer, die vor dem 16.05.1976 eine Gewalttat in der Bundesrepublik Deutschland oder vor dem 03.10.1990 in der DDR erlitten haben, sollten in Zukunft uneingeschränkte Leistungen des OEG erhalten. Deshalb sind § 10a OEG und § 138 Abs. 3-5 SGB XIV umgehend aufzuheben.
Geschädigte, die auch heute noch unter den Folgen solcher Gewalttaten leiden, sind durch die gesundheitlichen Einschränkungen seit Jahrzehnten belastet. Sie bedürfen in besonderem Maße der Unterstützung des Staates. Ihnen ist unter den gleichen Voraussetzungen Entschädigung zu gewähren wie denjenigen, die nach dem Inkrafttreten des OEG Opfer geworden sind. Das gilt auch für Personen, die in der ehemaligen DDR vor der Wiedervereinigung eine Gewalttat mit gesundheitlichen Dauerfolgen erlitten haben. Leistungen für immaterielle Schäden durch die Täter oder Dritte betreffen andere Ansprüche und stellen keinen adäquaten Ersatz dar.
Forderung:
- Aufhebung des § 10a OEG und der korrespondierenden Regelung im SGB XIV.
4. Zahlung der Grundrente nach dem OEG/BVG neben Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung
Leistungen nach dem OEG ruhen gemäß § 65 BVG, sofern aus derselben Ursache Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung erbracht werden. Gleiches gilt in Höhe des Unterschieds zwischen einer Versorgung nach allgemeinen beamtenrechtlichen Bestimmungen und aus der beamtenrechtlichen Unfallfürsorge. Grundsätzlich ist der Gesamtwert der Bezüge maßgeblich. Ein Vergleich der Einzelleistungen findet nicht statt.
Stellt also die Gewalttat gleichzeitig einen Arbeits- oder Dienstunfall dar, werden regelmäßig nur die vorrangigen Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung erbracht, da diese im Allgemeinen höher sind als Leistungen nach dem OEG. Selbstverständlich müssen Doppelleistungen grundsätzlich vermieden werden. Aus der Sicht der betroffenen Opfer ist jedoch nicht nachzuvollziehen, dass sie trotz der besonderen Belastung durch eine Gewalttat keinerlei Leistungen aus dem OEG erhalten.
Die Beschädigtengrundrente ist eine ideelle Entschädigung, die unabhängig von Einkommen und Vermögen geleistet wird. Der besondere Charakter der Beschädigtengrundrente zeigt sich auch in ihrer Nichtanrechenbarkeit auf Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende und der Sozialhilfe. Kriegsopfer in den neuen Bundesländern erhalten sie in voller Höhe. Die Beschädigtengrundrente aus dem OEG/BVG darf nicht ruhen, wenn Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung oder aus der beamtenrechtlichen Unfallfürsorge erbracht werden. Sie ist zusätzlich zu leisten.
Forderung:
- Zahlung der Grundrente neben den Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung.
5. Leistungen der Traumaambulanzen
Traumaambulanzen gewähren einen schnellen Zugang zu psychotherapeutischer Unterstützung einschließlich Maßnahmen der Psychoedukation. Sie können damit die Ausbildung einer psychischen Erkrankung oder deren Chronifizierung verhindern.
Umso wichtiger ist es, dass ein flächendeckendes Angebot besteht. Rahmenbedingungen wie Erreichbarkeit, Wahlmöglichkeit zwischen männlichen oder weiblichen Behandelnden und eine Wartezeit von deutlich unter zwei Wochen müssen gewährleistet sein. Die Behandelnden müssen über eine Approbation und traumatherapeutische Zusatzqualifikation verfügen. Die Behandlung muss der S3-Leitlinie zur Behandlung der Posttraumatischen Behandlungsstörung (PTBS) genügen. Der Fachbeirat Medizin/Psychologie des WEISSEN RINGS hat Qualitätsanforderungen an Traumaambulanzen erarbeitet und auf der Homepage des WEISSEN RINGS veröffentlicht (https://weisser-ring.de/experten/medizin-psychologie).
Im Oktober 2019 wurde die S2k-Leitlinie „Diagnostik und Behandlung von akuten Folgen psychischer Traumatisierung“ veröffentlicht. Aus der Evaluation der Traumaambulanzen in Nordrhein-Westfalen (Schürmann 2010) ist bekannt, dass nach der Posttraumatischen Belastungsstörung mit 52 % die akute Belastungsreaktion mit 19 % die zweithäufigste Diagnose ist. Dies resultiert auch daraus, dass in fast zwei Drittel der Fälle die Behandlung innerhalb des ersten Monats nach der Tat begann. Auch diese neue Leitlinie ist neben der S3-Leitlinie zur Posttraumatischen Belastungsstörung in die Qualitätsanforderungen an Traumaambulanzen einzubeziehen.
Unabdingbar ist die in § 35 SGB XIV vorgesehene Verpflichtung der Träger der Sozialen Entschädigung, Berechtigte bei weiterem psychotherapeutischem Behandlungsbedarf auf Angebote außerhalb der Traumaambulanz zu verweisen. Idealerweise sind die Traumaambulanzen in diesen Prozess einzubeziehen. Nur hierdurch kann eine Unterbrechung der Behandlung und damit eine Verschlechterung bis hin zur Chronifizierung vermieden werden.
Forderungen:
- Flächendeckende Einrichtung von Traumaambulanzen, um so die Versorgung auch außerhalb von Ballungszentren zu gewährleisten.
- Behandlung in den Traumaambulanzen nach den Standards der S3-Leitlinie zur Behandlung der Posttraumatischen Belastungsstörung und der S2k-Leitlinie „Diagnostik und Behandlung von akuten Folgen psychischer Traumatisierung“ durch approbierte Psychotherapeuten mit traumaspezifischer Zusatzqualifikation.
- Anspruch auf Weiterbehandlung der Berechtigten in der Traumaambulanz, bis ein Angebot außerhalb der Traumaambulanz bei weiterem Behandlungsbedarf tatsächlich verfügbar ist, um so die lückenlose Behandlung zu gewährleisten.
6. Voller Erhalt des Berufsschadensausgleichs
Der WEISSE RING begrüßt die unveränderte Beibehaltung der Regelungen zum Berufsschadensausgleich. Es ist wichtig, dass die perspektivische berufliche Entwicklung auch zukünftig im SGB XIV berücksichtigt wird. Der Berufsschadensausgleich stellt, ebenso wie die Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben, eine der Leistungen dar, die einen Schadensausgleich darstellen und für Geschädigte gleichzeitig soziale Sicherheit gewährleisten.
Die Berufsschadensausgleichsverordnung wird im Zuge der Novellierung jedoch aufgehoben. Es ist sicherzustellen, dass mit dieser Aufhebung keine rechtliche Schlechterstellung verbunden sein wird.
Geschädigte haben keinen Anspruch auf Berufsschadensausgleich, wenn sie ihren Wohnsitz im Ausland haben oder ihn dorthin verlegen. Dies wird von den Betroffenen stark kritisiert. Diese Regelung hindere beispielsweise die Verlegung des Wohnsitzes ins Ausland und damit die Möglichkeit, Distanz zu einem Tatort aufzubauen. Deshalb sollte die Zahlung des Berufsschadensausgleichs auch bei einem Wohnsitz im Ausland erfolgen.
Forderungen:
- Unveränderter Erhalt des Berufsschadensausgleichs mit inhaltsgleicher Berufsschadensausgleichsverordnung.
- Zahlung des Berufsschadensausgleichs auch bei Wohnsitz im Ausland.
7. Leistungen des Ergänzenden Hilfesystems
Der Runde Tisch Sexueller Kindesmissbrauch hat in seinem Abschlussbericht vom November 2011 die Einrichtung eines ergänzenden Hilfesystems gefordert:
„Das Hilfesystem dient der Unterstützung Betroffener, die in der Vergangenheit Opfer sexuellen Kindesmissbrauchs wurden. Die gesellschaftliche Debatte der Missbrauchsfälle, welche zur Einrichtung des Runden Tisches geführt hat, wie auch die Diskussionen und Ergebnisse des Runden Tisches selbst werden in Zukunft den Betroffenen die Geltendmachung ihrer Rechte wesentlich erleichtern. (…) Das Hilfesystem dient daher der Hilfe in Missbrauchsfällen aus der Vergangenheit, soweit den Betroffenen die vom Runden Tisch angestoßenen dauerhaften Verbesserungen nicht mehr helfen können. Antragsberechtigt sollen folglich Betroffene eines Kindesmissbrauchs sein, der nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland (23. Mai 1949) und vor Inkrafttreten des Gesetzes zur Stärkung der Rechte der Opfer sexuellen Missbrauchs (StORMG) stattgefunden hat.“
Geschädigte können aus dem Fonds Sexueller Kindesmissbrauch Unterstützung von bis zu 10.000 € (bis zu 15.000 € bei behinderungsbedingten Mehraufwendungen) für beispielsweise psychotherapeutische Hilfen, Heil- und Hilfsmittel, Kosten im Zusammenhang mit der Aufarbeitung des Missbrauchs oder zur Unterstützung bei der Weiterbildung erhalten. Die Leistungen des Fonds schränken weitergehende Leistungen des OEG nicht ein.
Die vom Runden Tisch geforderten Verbesserungen unter anderem im Bereich der Gesetzlichen Krankenversicherung und im Opferentschädigungsrecht sind aber leider bis heute nicht festzustellen. Geschädigte haben nach wie vor erhebliche Probleme, benötigte Therapien schnell, in ausreichender Zahl und durch fachlich geeignete Therapeutinnen und Therapeuten zu erhalten oder allgemein ihre Entschädigungsansprüche durchzusetzen. Dies führt dazu, dass Geschädigte, die nach dem Inkrafttreten des StORMG am 30.06.2013 Opfer eines Kindesmissbrauchs wurden, keinesfalls bessergestellt sind als diejenigen, die vor dem Stichtag Opfer wurden. Hinzu kommt, dass die für diese Geschädigten relevanten Verbesserungen des SGB XIV erst 2024 in Kraft treten.
Forderung:
- Die Leistungen des Fonds Sexueller Missbrauch sind auch für Taten, die nach dem Inkrafttreten des StORMG im Juni 2013 geschehen sind, zu gewähren. Dies muss gelten, solange die Regelsysteme noch nicht die erforderlichen Leistungen erbringen.
8. Rechtsanspruch auf Assistenzhunde
Assistenzhunde für den Bereich der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) und der dissoziativen Identitätsstörung (DIS) werden mittlerweile regelmäßig ergänzend in der Behandlung eingesetzt und ihr Nutzen bzw. ihre Wirksamkeit wird durch Kosten- und Leistungsträger vielfach anerkannt. Dafür spricht die wiederkehrende Bewilligung von Mitteln zur Beschaffung, Ausbildung und Unterhaltung von Assistenzhunden durch das Ergänzende Hilfesystem (EHS). Der große Vorteil von PTBS-Assistenzhunden ist die alltägliche unterstützende Wirkung in der Auseinandersetzung von Betroffenen mit typischen Symptomen bei PTBS oder dissoziativen Identitätsstörungen bzw. in der Bewältigung von Einschränkungen, die in der Regel Folge solcher Störungen sind.
Wissenschaftliche Ergebnisse unterstreichen die aus der Praxis abgeleiteten Beobachtungen und Feststellungen, dass Assistenzhunde insbesondere große Wirkung bei sog. Dissoziationsstopps entfalten und das Sicherheitsgefühl der Betroffenen stärken und in antriebsarmen Phasen den Antrieb steigern. Generell deuten aktuelle Forschungsbefunde darauf hin, dass Assistenzhunde ein wichtiges Element bei der Verbesserung von bestehenden Symptomen und der allgemeinen Lebensqualität von PTBS-Patienten darstellen können (Kloep et al., 2017; Rodriguez et al., 2018). Forschungsbefunde zeigen auch, dass PTBS-Assistenzhunde in der Lage sind, Kernsymptome von PTBS wie bspw. Intrusionen oder eine erhöhte Wachsamkeit abzumildern und Ängste zu reduzieren (Rodriguez et al., 2020).
Leider gibt es bisher im Rahmen psychischer Erkrankungen noch keinen ausreichenden Anspruch auf die Versorgung mit einem Assistenzhund. Dieser wird durch die Rechtsprechung nur in sehr eingeschränktem Maße bewilligt. Im Hinblick auf die neuen Erkenntnisse in der Forschung und die Bestrebungen in der Politik sollte dieser Anspruch jedoch gesetzlich geregelt werden.
Forderung:
- Rechtsanspruch auf Versorgung mit einem auf die Symptome der Störung ausgebildeten Assistenzhund als Hilfsmittel und Aufnahme in das Hilfsmittelverzeichnis.
B. Qualität des Verfahrens
1. Schnelle Leistungsgewährung
Durch die leider übliche jahrelange Dauer der Verfahren werden Opfer von Gewalttaten zusätzlich belastet. Eine schnellere Leistungsgewährung und ein einfühlsamer Umgang mit den Opfern gehören zu den langjährigen Forderungen des WEISSEN RINGS.
Eine aktive Betreuung und Förderung der Antragsverfahren, die der Fürsorgepflicht des Staates und dem entschädigungsrechtlichen Ansatz des Gesetzes Rechnung tragen, sind unabdingbar. Dies gilt nicht nur für die Verwaltung, sondern ebenso für die Sozialgerichtsbarkeit.
Opfer von Gewalttaten dürfen nicht länger durch die Dauer der Verfahren und hiermit einhergehende Belastungen davon abgehalten werden, ihnen zustehende Entschädigungsleistungen geltend zu machen. Immer wieder werden Anträge nicht gestellt oder aber laufende Entschädigungsverfahren nicht weiterverfolgt, weil die hiermit einhergehenden Belastungen nicht tragbar sind.
Die Verfahren über Leistungsanträge nach dem OEG bzw. ab 2024 nach dem SGB XIV sollten innerhalb eines Jahres abgeschlossen sein. Durch eine jahrelange Dauer der Verfahren werden Opfer von Gewalttaten zusätzlich belastet. Die maximale Verfahrensdauer soll nur in Ausnahmefällen überschritten werden können, so etwa wenn Gutachten eingeholt werden müssen.
Der Vorbehalt Reha vor Rente sollte nicht mehr greifen, wenn innerhalb der Jahresfrist notwendige und zumutbare Reha-Leistungen nicht angeboten worden sind. Die Bestimmung des § 29 BVG ist dahingehend zu ergänzen, dass die Sperrwirkung entfällt, wenn innerhalb der genannten Frist kein qualitatives Reha-Angebot erfolgt.
Um das Ziel der Beschleunigung der Verfahren zu erreichen, sollte das Gesetz außerdem durch eine Genehmigungsfiktion wie beispielsweise in § 13 Abs. 3a SGB V ergänzt und, wo dies erforderlich ist, die Zahl der für die Bearbeitung von Entschädigungssachen nach dem OEG bzw. SGB XIV zuständigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erhöht werden.
Die Verwaltungsbehörde müsste demnach über einen Antrag auf Leistungen zügig, spätestens bis zum Ablauf von drei Wochen nach Antragseingang oder in Fällen, in denen eine gutachtliche Stellungnahme eingeholt wird, innerhalb von fünf Wochen nach Antragseingang entscheiden. Wenn die Verwaltungsbehörde eine gutachtliche Stellungnahme für erforderlich hält, hat sie diese unverzüglich einzuholen und die Leistungsberechtigten hierüber zu unterrichten. Die gutachtliche Stellungnahme ist innerhalb von drei Wochen zu erstatten. Die Sachverständigen werden auf die Frist hingewiesen. Kann die Verwaltungsbehörde die o. g. Fristen nicht einhalten, teilt sie dies den Berechtigten unter Darlegung der Gründe rechtzeitig schriftlich mit. Erfolgt keine Mitteilung eines hinreichenden Grundes, gilt die Leistung nach Ablauf der Frist als genehmigt. Beschaffen sich die Berechtigten nach Ablauf der Frist eine erforderliche Leistung selbst, ist die Verwaltungsbehörde zur Erstattung der hierdurch entstandenen Kosten verpflichtet. Die dargestellten Fristen gelten nicht für Anträge auf Rentenleistungen.
Forderungen:
- Über Anträge nach dem OEG/BVG oder SGB XIV soll innerhalb eines Jahres entschieden werden.
- Anträge auf Heil- oder Krankenbehandlung oder medizinische Rehabilitation gelten als genehmigt, wenn sie nicht innerhalb von 3 Wochen abgelehnt werden.
- § 29 BVG ist dahingehend zu ergänzen, dass die Sperrwirkung entfällt, wenn eine notwendige und zumutbare Rehamaßnahme nicht angeboten oder trotz Genehmigungsfiktion nicht durchgeführt wird.
2. Notwendige Ergänzungen der Verfahrensregeln
Die Richtlinie 2012/29/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Oktober 2012 über Mindeststandards für die Rechte, die Unterstützung und den Schutz von Opfern von Straftaten enthält umfangreiche Bestimmungen zu den in den strafrechtlichen Verfahren enthaltenden Standards. So normiert die Richtlinie das Recht der Betroffenen zu verstehen und verstanden zu werden (Art. 3), das Recht auf Information bei der ersten Kontaktaufnahme mit einer zuständigen Behörde (Art. 4), ein Recht auf Information zum Fall (Art. 6) sowie ein Recht auf Dolmetschleistung und Übersetzung (Art. 7). Im Strafverfahren haben Betroffene Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 10) sowie Schutzrechte, so z. B. die Beschränkung der Anzahl der Vernehmungen auf ein Mindestmaß (Art. 20). Die Mitgliedstaaten sind ferner verpflichtet, für eine Schulung der Berufsgruppen Sorge zu tragen, die mit Opfern in Kontakt kommen (Art. 25). Diese Rechte sind auch auf das OEG-Verfahren übertragbar, aber sind bisher nicht oder nicht in ausreichendem Maße in den verwaltungs- und sozialgerichtlichen Verfahrensordnungen vorgesehen. Die entsprechenden Vorschriften des deutschen Rechts sind zu ergänzen.
So müssen die Behörden sicherstellen, dass die mündliche und schriftliche Kommunikation mit Antragstellern in einfacher und verständlicher Sprache geführt wird. Bei dieser Kommunikation wird den persönlichen Merkmalen der Antragstellerin bzw. des Antragstellers – einschließlich Behinderungen, die ihre/seine Fähigkeit zu verstehen oder verstanden zu werden, beeinträchtigen können – Rechnung getragen. Die Behörden sollten insbesondere dazu verpflichtet sein, sicherzustellen, dass Berechtigte die ihnen zustehenden Sozialleistungen umfassend und zügig erhalten. Hierzu prüfen sie ohne gesonderte Antragstellung die Leistungserbringung in Form von vorläufigen Leistungen und informieren Antragsteller insbesondere über das Angebot der psychologischen Frühintervention in Traumaambulanzen. Sie sollten auch zu einer möglichen Anspruchsberechtigung von Personen aus deren persönlichem Näheverhältnis beraten. Im Übrigen gelten die Bestimmungen des SGB I und SGB X.
Die Korrespondenz mit Antragstellern darf sich nicht auf allgemeine und formelhafte Ausführungen beschränken. Gründe für die Entscheidung sind mit der gebotenen Rücksicht auf die Antragsteller auszuführen.
Für die Verwirklichung der Leistungsansprüche ist ferner wichtig, dass Gewaltopfer ausreichend über ihre Rechte informiert werden. Die Information sollte bereits in den Krankenhäusern beginnen, beispielsweise durch den Sozialen Dienst und die behandelnden Ärztinnen und Ärzte. Ferner ist es unbedingt erforderlich der Allgemeinheit durch Info-Aktionen in den Medien (in Zeitungen oder per Kurzvideos) Kenntnisse über das Opferentschädigungsrecht zu vermitteln.
Leistungen nach dem OEG und ab 2024 nach dem SGB XIV werden grundsätzlich nur auf Antrag gewährt. Damit Gewaltopfer alle nach dem Gesetz ihnen zustehende Leistungen erhalten, ist es erforderlich, dass die Versorgungsverwaltung die Antragsteller umfassend über ihre Rechte aufklärt.
Es würde den Bekanntheitsgrad des Rechts der Gewaltopferentschädigung steigern und mehr Opfern als bisher Entschädigungsleistungen ermöglichen, wenn alle staatlichen Stellen und die behandelnden Ärztinnen und Ärzte verpflichtet würden, Opfer von Gewalttaten auf ihre Rechte nach dem OEG bzw. ab 2024 nach dem SGB XIV hinzuweisen und einen Antrag an die Versorgungsverwaltung weiterzuleiten. Der WEISSE RING fordert eine Informationspflicht aller staatlichen Stellen. Die durch das 2. Opferrechtsreformgesetz in die Strafprozessordnung (StPO) eingefügte Informationspflicht der Strafverfolgungsbehörden nach § 406a StPO ist ein wichtiger erster Schritt. Die Behörden sollten außerdem ihr Unterstützungsangebot zur Weitergabe bei Polizei, Opferhilfeorganisationen, Beratungsstellen sowie Notfallambulanzen hinterlegen und dies auch auf ihren jeweiligen Homepages sichtbar machen.
Forderungen:
- Respektvoller Umgang mit Gewaltopfern, u. a. durch Verhinderung von belastenden Mehrfachvernehmungen.
- Bereitstellung von geeigneten Informationen und Hilfsangeboten.
- Bereitstellung von für Betroffene verständlichen Informationen über Leistungen nach dem OEG/BVG.
3. Sicherstellung der sofortigen Heilbehandlung
In der Wissenschaft besteht Einigkeit, dass nach einem Extremereignis, wie dies eine schwere Gewalttat darstellt, sofortige psychotherapeutische Hilfe erforderlich ist. Diese besteht in der Aufklärung, Beratung, Behandlung und Stabilisierung. Wird die Hilfe sofort zur Verfügung gestellt, kann in einer Vielzahl von Fällen eine vollständige Verarbeitung des Erlebten erreicht werden.
§§ 10 Abs. 8 und 18c Abs. 3 Bundesversorgungsgesetz (BVG) geben der Versorgungsverwaltung die Möglichkeit, sofort nach jeder Gewalttat auf Antrag oder von Amts wegen (§ 18a Abs. 1 Satz 1 BVG) tätig zu werden. Sobald das Opfer glaubhaft eine vorsätzliche Gewalttat schildert oder eine solche sich aus den äußeren Umständen ergibt, bei der die Gefahr einer seelischen Erkrankung besteht, ist die Versorgungsverwaltung zuständig. Wann diese Gefahr besteht, ergibt sich aus der bisherigen Nr. 71 der „Anhaltspunkte“, die nach der Begründung der Versorgungsmedizin-Verordnung auch weiterhin gilt. So wichtig der schnelle Start der Hilfe bei physischen Verletzungen ist, so wichtig ist auch die sofortige Hilfe bei psychischen Verletzungen.
Forderung:
- Die Verwaltung ist aufgerufen, ihre aktive Rolle als Reha-Träger offensiv wahrzunehmen.
4. Qualität der Begutachtung
Die Qualität der Begutachtung in den Verwaltungs- und Gerichtsverfahren ist zu verbessern. Gewaltopfer haben einen Anspruch auf eine kompetente, zeitnahe, qualitätsgesicherte Begutachtung. Dies gilt insbesondere für die Feststellung psychischer Folgen von Gewalttaten. In diesen Verfahren tätige Gutachterinnen und Gutachter müssen mögliche gesundheitliche Auswirkungen von erlittenen Traumata ebenso wie die einzelnen Krankheitsbilder kennen. Sie müssen deren Bedeutung für die Feststellung von Kausalzusammenhängen ebenso wie deren Auswirkung auf die Aussagefähigkeit der Opfer beurteilen und bei der Beantwortung der Fragestellungen sachgerecht bewerten können.
Bei der Auswahl ist insbesondere bei der Begutachtung von Traumafolgestörungen auf die spezifische fachliche Eignung der Sachverständigen zu achten. Die Bundesregierung kann durch Rechtsverordnung die Feststellung der Geeignetheit regeln. Hierbei kann z. B. auf das Curriculum der Deutschsprachigen Gesellschaft für Psychotraumatologie (DeGPT) zurückgegriffen werden.
Antragsteller sollen Gelegenheit haben, geeignete Gutachterinnen und Gutachter vorzuschlagen. Wie in der gesetzlichen Unfallversicherung sollen den Antragstellern mehrere Gutachterinnen oder Gutachter zur Auswahl vorgeschlagen werden, sie sind auf ihr Widerspruchsrecht gegen die Übermittlung von Sozialdaten hinzuweisen und über den Zweck des Gutachtens zu informieren.
Forderungen:
- Sicherstellung der besonderen fachlichen Eignung der Gutachterinnen und Gutachter.
- Vorschlags- und Auswahlrecht der Berechtigten.
5. Nachweis der Straftat
Leistungen nach dem Recht der Gewaltopferentschädigung können nur gewährt werden, wenn festgestellt wird, dass der Antragsteller bzw. die Antragstellerin Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen und tätlichen Angriffs geworden ist. Lässt sich dies im Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren nicht feststellen, geht das Nichtfestgestelltsein zulasten des Antragstellers. Der Gesetzgeber hat in § 15 des Verwaltungsverfahrensgesetzes der Kriegsopferversorgung (KOVVfG) jedoch zugunsten der Antragsteller eine Beweiserleichterung geschaffen. Danach sind die Angaben der Antragsteller, die sich auf die mit der Schädigung im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, der Entscheidung zugrunde zu legen, soweit sie nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen. Die Beurteilung der Glaubhaftigkeit ist keinem Beweis durch ein Gutachten zugänglich, sondern darüber haben die Verwaltung oder das Gericht zu entscheiden. Auch § 15 KOVVfG setzt eine Begutachtung nicht voraus. Die Beurteilung der Glaubhaftigkeit ist ureigenste Aufgabe der Richterin bzw. des Richters. Zudem ist die Glaubhaftigkeitsbegutachtung ursprünglich für das Strafverfahren entwickelt worden und geht von gesunden Zeugen aus. Psychische Erkrankungen führen aber gerade aufgrund der Traumafolgen häufig dazu, dass die entsprechenden Gutachten zur Glaubhaftigkeit negativ ausfallen.
Diese Beweiserleichterung hilft beispielsweise Antragstellern, die in der Jugend Opfer sexuellen Missbrauchs in der Familie geworden sind, auch wenn sie erst als Erwachsene einen Antrag auf Entschädigung stellen und dann keine Zeugen zur Verfügung stehen.
Allerdings hilft § 15 KOVVfG nicht, wenn das Opfer keinerlei Erinnerung an die Tat hat. Auch bei einem getöteten Opfer oder bei unbekannten Tätern gelingt es häufig nicht, einen vorsätzlichen Angriff nachzuweisen. Das ist unbefriedigend. Es sollte daher gesetzlich geregelt werden, unter welchen leicht feststellbaren äußeren Umständen von einer vorsätzlichen Gewalttat ausgegangen werden muss, beispielsweise dann, wenn Beschädigte Zeichen einer Gewalteinwirkung aufweisen und keine Tatsachen für einen anderen Geschehensablauf vorliegen. In einem solchen Fall sollte das Vorliegen eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gesetzlich vermutet werden.
Forderungen:
- Konsequente Anwendung der Beweiserleichterung des § 15 KOVVfG bzw. des § 117 SGB XIV ab 01.01.2024.
- Glaubhaftigkeitsbegutachtungen nur in Ausnahmefällen.
6. Feststellung des Ursachenzusammenhangs zwischen Gewalttat und psychischen Folgen
Opfer von Gewalttaten erhalten bei psychischen Störungen nur dann Leistungen nach dem OEG, wenn sie nachweisen können, dass die psychische Belastung durch die Straftat verursacht worden ist. Das stößt im Einzelfall auf erhebliche Schwierigkeiten. Das Bundessozialgericht (BSG) hat deshalb in seiner Entscheidung vom 12.06.2003 (B 9 VG 1/02 R) ausgeführt, dass eine bestärkte Wahrscheinlichkeit für diesen Zusammenhang besteht, wenn ein Ereignis nach den medizinischen Erkenntnissen in signifikant erhöhtem Maße geeignet ist, eine bestimmte Erkrankung hervorzurufen. Grundlage für die Beurteilung ist Ziffer 71 der „Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz“ (im Folgenden: Anhaltspunkte). Eine solche bestärkte Wahrscheinlichkeit ist dann gegeben, wenn im Einzelfall nach Maßgabe der in den Anhaltspunkten festgestellten allgemeinen medizinischen Erkenntnisse die Tatsachen im konkreten Fall einen Ursachenzusammenhang begründen.
Das Bundessozialgericht und das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hatten seit langem eine demokratische Legitimation der Anhaltspunkte gefordert. Die Anhaltspunkte wurden zum 01.01.2009 in die Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMed-V) überführt. Hiermit nicht verbunden waren eine Überarbeitung und Anpassung an die aktuellen Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft. Ferner wurde der Teil „Kausalitätsbeurteilung bei einzelnen Krankheitszuständen“ nicht in die Anlage zur Verordnung aufgenommen. Hierdurch kann eine erhebliche Rechtsunsicherheit hervorgerufen und die Einheitlichkeit der Verwaltungspraxis gefährdet werden. Kausalitätsvermutungen können in Verordnungen geregelt werden. So enthält zum Beispiel für die Soldatenversorgung die Einsatzunfallverordnung (EinsatzUV) eine Vermutung über den Zusammenhang zwischen einer in der Verordnung genannten psychischen Störung und einen Einsatzunfall.
Der Bundesrat hatte das Bundesministerium für Arbeit und Soziales bereits 2008 aufgefordert, zeitnah nach Inkrafttreten der Verordnungsmedizin-Verordnung mit den Ländern in einen Dialog zur Überarbeitung und Schaffung von Rechtssicherheit im Bereich der Beurteilung der Ursachenzusammenhänge einzutreten. Um die Rechtsunsicherheit zu beseitigen muss die Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung um die bisherigen Kausalitätsbestimmungen, insbesondere der Nr. 71 der Anhaltspunkte, ergänzt, überarbeitet und an die aktuellen Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft angepasst werden.
Forderung:
- Übernahme der in der Einsatzunfallverordnung aufgeführten psychischen Störungen für die Vermutungsregelung in § 4 SGB XIV.
7. Einrichtung von Clearingstellen
Clearingstelle:
Nach dem Vorbild des Ergänzenden Hilfesystems sollten Clearingstellen geschaffen werden. Ihre Aufgabe ist es, spezielles Fachwissen in den Entscheidungsprozess einzubringen.
Die Clearingstelle sollte mit einer/m Juristin bzw. Juristen mit der Befähigung zum Richteramt, einer/m Psychotherapeutin bzw. Psychotherapeuten mit traumatherapeutischer Zusatzausbildung, einer/m Vertreterin bzw. Vertreter der Betroffenen, einer/m Fachärztin bzw. Facharzt eines im vorgelegten Fall maßgeblichen Fachgebiets und einer/m Vertreterin bzw. Vertreter der Verwaltungsbehörde besetzt werden.
Besteht Ungewissheit über den schädigenden Vorgang, ist der Antrag der Clearingstelle vorzulegen. Die Verwaltungsbehörde übersendet die Unterlagen mit einer Begründung für die vorgesehene Ablehnung an die Clearingstelle. Die Clearingstelle überprüft den Antrag in vollem Umfang und legt ihrem Votum den Beweismaßstab der Plausibilität zugrunde. Sie kann der Verwaltungsbehörde Hinweise für eine weitere Sachaufklärung gemäß § 21 SGB X geben. In ihrer Entscheidung ist durch die Verwaltungsbehörde auf das Votum der Clearingstelle einzugehen.
Erweiterte Clearingstelle:
Die erweiterte Clearingstelle wertet Verfahren aus, bei denen der Ursachenzusammenhang vermutet wird (vgl. Forderung Nr. 6).
Forderung:
- Einführung einer Clearingstelle zur Beurteilung der Plausibilität des geschilderten Sachverhalts.
- Einführung einer erweiterten Clearingstelle zur Überprüfung der bestärkten Wahrscheinlichkeit für den Ursachenzusammenhang zwischen Gewalttat und psychischer Folge.