Acht Minuten, 85 Schicksale
Acht Minuten. Acht Minuten braucht Sebastian Bührmann, um die 85 Namen zu verlesen. Und zu jedem dieser Namen ein Todesdatum. Es sind unfassbar lange acht Minuten. Eine Todesliste, die kein Ende nehmen will. Absolute Stille in der Halle. Nur Bührmanns Stimme ist zu vernehmen, klar, deutlich, fest. Manche der Anwesenden nicken, bestätigend, dass der Name, der eben verlesen worden ist, der des Vaters, der Mutter, der Ehefrau, des Ehemanns, des Sohns oder der Tochter ist. Andere lassen sich von ihrer Trauer überwältigen, zücken ein Taschentuch. Ein paar von ihnen bekommen sofort Zuspruch und tröstende Gesten. Einen Blick voller Mitgefühl und Verständnis. Eine Hand, die sich auf ihre Schulter legt.
An einem tristen Donnerstagmorgen Anfang Juni endet in der Weser Ems Halle im niedersächsischen Oldenburg einer der größten Strafprozesse der deutschen Nachkriegsgeschichte. Angeklagt war dabei ein 42-Jähriger, der als Krankenpfleger zwischen 2000 und 2005 insgesamt 100 Menschen in zwei verschiedenen Kliniken ermordet haben soll – so lautete der Vorwurf der Staatsanwaltschaft. Für 85 dieser Taten verurteilt ihn die Schwurgerichtskammer des Landgerichts Oldenburg unter dem Vorsitz von Richter Bührmann nach 24 Verhandlungstagen schließlich zu lebenslanger Haft und stellt dabei die besondere Schwere der Schuld fest. Eine Haftentlassung des Verurteilten nach 15 Jahren ist somit ausgeschlossen. Für sechs weitere Taten war der 42-Jährige bereits in früheren Prozessen zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt worden.
An jenem Tag blickt die Welt schon früh nach Oldenburg. Es ist 8 Uhr, vor der Halle hat sich eine Handvoll Zuschauer eingefunden, die geduldig auf Einlass warten. Gleich werden sie von einer ganzen Schar Journalisten verschiedener Nationalitäten umlagert, gut zwei Dutzend Berichterstatter sind zwei Stunden vor dem Beginn der Urteilsverkündung da, haben ihre Kameras aufgebaut und die Übertragungswagen in Betrieb genommen. „Für mich geht es heute um Gerechtigkeit, auch um Befriedigung“, sagt ein Mann. „Das Verfahren ist würdig geführt worden, auch mit Blick auf die Angehörigen“, analysiert er weiter. Seine Analyse dürfte dabei als fundiert und routiniert gelten. Fundiert, weil er, Christian Marbach, Sprecher der Angehörigen der Opfer ist und jedem einzelnen Verhandlungstag gegen den Mörder seines Großvaters beigewohnt hat. Routiniert deshalb, weil er im Laufe des Prozesses nicht müde geworden ist, vor den Kameras seine Stimme zu erheben und Journalisten in den Block zu diktieren, dass er selbst von einer weitaus höheren Zahl an Opfern ausgehe, 300 könnten es gewesen sein; oder dass er die Justiz loben will, weil sie in diesem Mammutprozess dafür Sorge getragen hat, dass auf die Bedürfnisse und Gefühle der Angehörigen der Opfer ein besonderes Augenmerk gelegt wird. „Es war ein sehr fairer Prozess – auch dem Täter gegenüber“, zieht er ein Resümee.
Ein paar Meter weiter, vor dem Seiteneingang der Halle, durch den die Prozessbeteiligten das Gebäude betreten, steht Dietmar B. und plaudert mit einem weiteren Mann über Autos, über das Wetter, über dies und das. Er wirkt äußerlich gelassen. Mit dieser äußerlichen Gelassenheit erzählt B. auch, warum er dort steht: Der Angeklagte soll seinen Vater ermordet haben. Daher sei er der Nebenklage beigetreten, habe jeden Prozesstag die gut 100 Kilometer zwischen seiner Heimatstadt und Oldenburg im Auto hinter sich gebracht, die Verhandlung recht zurückgelehnt verfolgt. Bis zu dem Tag, an dem das Gericht den Mord an seinem Vater rekonstruiert. „Mir ging es dabei alles andere als gut, ich war total niedergeschlagen. Man macht sich so seine Gedanken“, schildert B.. In einer Verhandlungspause setzt er sich in dem Bereich, der in einem Nebenraum der Halle für die insgesamt 126 Nebenkläger reserviert ist, an einen Tisch. Eine ihm bislang unbekannte Frau nimmt neben ihm Platz. „Ihnen geht es nicht so gut“, stellt sie sofort fest. Da wollen die Worte aus ihm raus, er fängt an zu reden und zu reden. Über seinen seelischen Schmerz. Über die Belastung, den Vater exhumieren lassen zu müssen, wo er doch längst mit seinem Verlust klargekommen war in all den Jahren nach seinem Tod. Über das Unverständnis, dass die Verantwortlichen der beiden Kliniken in Delmenhorst und in Oldenburg, in denen die Mordserien stattfanden, den Angeklagten nicht stoppten, obwohl es doch genügend Hinweise gegeben habe. „Das Reden hat mir in diesem Moment geholfen“, ist sich B. sicher. „Und die sind ja alle nett“, fügt er an.
Mit „die“ meint er ehrenamtliche Mitarbeiter der Außenstellen des WEISSEN RINGS in Oldenburg und in Detmold. Bis zu neun von ihnen sind vom ersten Tag der Verhandlung an dabei, gleichzeitig oder im Schichtdienst. „Aus unserer Sicht ist es einmalig, dass ein Richter prophylaktisch Opferhelfer zu einem Prozess dazu geholt hat“, sagt Petra Klein, Leiterin der Oldenburger Außenstelle des WEISSEN RINGS und Mitglied im Bundesvorstand der Opferhilfeorganisation. „Wir sind zunächst gefragt worden, wie viele von unseren ehrenamtlichen Mitarbeitern am Prozess teilnehmen könnten. Ich habe wiederum in unserer Außenstelle nachgefragt – und hatte schnell eine gute Truppe zusammen. Auch eine Mitarbeiterin aus der Außenstelle Delmenhorst wollte dabei sein“, erinnert sie sich.
Auch an diesem letzten Tag im Mammutprozess sind wieder sechs Opferhelfer des WEISSEN RINGS anwesend. Klein versammelt sie um sich – ein kurzes Briefing folgt, wie schon an den 23 Verhandlungstagen zuvor. „Sollte jemand während der Urteilsverkündung rausgehen, gehen wir hinterher“, sagt sie. Die Helferinnen nicken. Dann prüfen zwei von ihnen, ob noch genügend Materialien auf den Tischen ausliegen: Taschentücher, Gummibärchen, Flyer. Und Traubenzucker. „Wir haben im Prozess wahrscheinlich gut zehn Kilogramm Traubenzucker verbraucht“, sagt Klein. Ein kleiner Schub Energie, wenn es für die Angehörigen im Gerichtssaal emotional zu belastend wird, wenn die verletzte Seele den Körper schwächt. Energie, die auch Richter Bührmann benötigt, er kommt kurz vorbei, um sich für die Urteilsverkündung einen kleinen Vorrat Traubenzucker zu holen, sich zu wappnen für diese Ausnahmesituation, die da auf ihn wartet.
24 Verhandlungstage vor der Schwurgerichtskammer
Eine Nebenklägerin, die Mitarbeiter des WEISSEN RINGS hatten bereits mehrfach Kontakt mit ihr, tritt zu der Gruppe. Ihre Mutter ist unter den Opfern. „Am Samstag war ein großer Artikel über den Prozess in der Zeitung“, schildert sie, „ich saß ich mit meinem Mann im Garten, die Sonne schien. Ich habe gelesen und angefangen zu weinen. Dann habe ich zu meinem Mann gesagt: Schau mal, die Rosen blühen. Das hat der Mörder nicht.“ Weitere Opferangehörige kommen auf die Frauen vom WEISSEN RING zu, richten freundliche Worte an sie, schenken ein Lächeln, manchmal auch gequält. Man ist sich näher gekommen in diesen 24 außerordentlichen Tagen. Schicksalsgemeinschaft. Dann gehen sie ein letztes Mal in diesem Verfahren zusammen in den Saal: die Richter, die Angehörigen der toten Mütter, Väter, Geschwister, Großeltern, Kinder, die Nebenkläger-Anwälte, gut 50 Journalisten, die gleich das Urteil um den Globus schicken werden, Polizisten und Justizbeamte, fast 100 Zuschauer. Und die Opferhelfer, die sich in den Reihen der etwa 90 Nebenkläger verteilen. Dann verkündet Richter Bührmann das Urteil der Schwurgerichtskammer. Und das Verfahren findet sein vorläufiges Ende.
Ute Brandt, ehrenamtliche Mitarbeiterin der Außenstelle des WEISSEN RINGS in Oldenburg, steht kurz nach Prozessende in dem abgetrennten Bereich für die Opfer und ihre Begleiter. „Das Vorsitzende war bemerkenswert. Er hat den Prozess mit einer Schweigeminute begonnen für alle die, die nicht dabei sein konnten - also mit einer Schweigeminute für die Opfer“, erinnert sie sich. Was ihr noch eindrucksvoller in Erinnerung geblieben ist, ist die Verlesung der Anklageschrift im Anschluss an jene Schweigeminute. „Ich hatte Tränen in den Augen“, erzählt Brandt. Ihre eigenen Gefühle bekam sie aber schnell in den Griff, musste sie schnell in den Griff bekommen. „Ich hatte den Gedanken: Das sind nicht meine Angehörigen. Aber ich bin hier, um diesen Menschen zu helfen“, sagt sie. Trost spenden, zum Gespräch bereitstehen, menschlichen Beistand bieten – das funktioniert nur richtig, wenn man bei aller Empathie auch Abstand wahren kann. Brandt kommt dabei zugute, dass sie Opfer nicht zum ersten Mal in einer Gerichtsverhandlung zur Seite gestanden, schon in so manchen menschlichen Abgrund geschaut hat. Doch die lange Dauer des Prozesses war auch für sie eine neue Erfahrung. „Ich war bis auf einen Tag immer hier. Und habe dafür Überstunden abgebaut“, erzählt sie. Schon im Gehen, ruft sie ihren Kolleginnen noch einen letzten Gruß zu: „Macht’s gut. Ich muss ja jetzt zur Arbeit. Hilft ja nix.“
Ihre Kolleginnen sind indes noch in Gespräche vertieft. Die meisten Nebenkläger verlassen das Gebäude unmittelbar nach Prozessende. Abstand gewinnen, auch räumlich. Andere haben aber noch weiteren Gesprächsbedarf. Die Inhalte der Unterhaltungen ähneln auch an diesem Tagen jenen, die die Mitarbeiter der Opferhilfeorganisation mit den Angehörigen der Ermordeten an den Prozesstagen zuvor geführt haben. Es geht weniger um juristische Fragen – die hatte Richter Bührmann im Laufe der Verhandlung wiederholt und ausführlich erklärt. „Ein wenig Einordnung der juristischen Details ist zwar hier und da noch notwendig gewesen. Den höchsten Redebedarf gab es aber in punkto Gefühle: Was macht das mit mir? Viele wussten zunächst nicht, wie mit dem eigenen Erleben umzugehen“, erläutert Außenstellenleiterin Klein.
15 Todesfälle konnten nicht nachgewiesen werden
Ein eigenes Erleben im Rahmen dieses Prozesses hatte auch Ursula Bunjes, eine weitere Mitarbeiterin in der Oldenburger Außenstelle der Opferhilfeorganisation. Wie hat sie ihre Gefühle bewältigt? „Ich bin Christin. Ich gebe alles nach oben ab“, sagt sie und lächelt. „Natürlich bewegt mich das hier alles. Wichtig ist dennoch, dass man es nicht zu nah an sich ranlässt und damit dem Täter zu viel Macht gibt – aber das kennen wir ja beim WEISSEN RING“, schildert sie. Einigen Menschen, denen sie in der Weser Ems Halle begegnet ist, hat sie Gottes Segen gewünscht – was ihr Kraft für ihre Aufgabe gibt, könnte auch anderen in schweren Stunden Trost sein. Keiner, so sagt sie, habe diesen frommen Wunsch nicht gern angenommen. Und dann erzählt sie von vielen Begebenheiten im Rahmen der Verhandlungstage, Bilder, die sich ihr eingeprägt haben, detailliert, nachhaltig. „Das Schlimme, was anderen Menschen widerfährt, darf uns ehrenamtliche Mitarbeiter nicht runterziehen. Das macht für mich auch einen Teil unserer Professionalität in der Opferhilfe aus“, zeigt sich Bunjes überzeugt.
Dietmar B. hat seine Gefühle nicht mehr im Griff. Er, der nur wenige Stunden vorher noch so souverän, gelassen gewirkt hatte, scheint ein wenig verloren, seine Augen glänzen, seine Stimme ist brüchig geworden. Sein Vater, das hat er nun durch die Justiz bestätigt bekommen, gehört zu den 85 Ermordeten. Als dieser Anfang des Jahrtausends im Oldenburger Klinikum starb, hatte er eine mögliche Ursache für sein überraschendes Versterben darin gesehen, „dass es zu wenig Personal gab“, wie er sagt. „Gewissheit“, das ist das Urteil jetzt für ihn. B. tauscht noch schnell Adressen aus mit einer jungen Frau Mitte 30, auch eine Nebenklägerin, auch den Vater durch den Mörder genommen bekommen. Eine letzte Umarmung, dann geht auch B..
Dann gibt es da noch die 15 Fälle, in denen den Angehörigen noch nicht einmal jene Gewissheit vergönnt ist, von der B. gesprochen hat. Außenstellenleiterin Klein etwa sitzt nach Prozessende mit einem Mann zusammen, der seine Mutter verloren hat, als sie unerwartet in einer der beiden Kliniken verstorben ist, anschließend aufgrund dieses Verlustes in die Mühlen der Ämter und in die Obdachlosigkeit geriet, sich mittlerweile aber wieder gefangen hat. „Da ist jemand auf dem Weg, und wir können ihm vielleicht helfen. Und dann: Freispruch“, sagt Klein. Zum zweiten Mal eine vergebene Hoffnung: Der Mann hatte gehofft, seine Mutter würde wieder lebendig aus dem Krankenhaus kommen. Dann hatte er bis zuletzt gehofft, wenigstens erfahren zu dürfen, ob sie eines natürlichen Todes gestorben ist - oder nicht. Beide Male wurde er enttäuscht. „Man hört diese Geschichten und weiß, was dahintersteckt. Das fasst natürlich auch mich an. Aber ich sage meinen Mitarbeitern immer: Ihr sollt mitfühlen, aber nicht mit fühlen“, sagt Klein.
An diesem tristen Donnerstagmorgen endet in der Weser Ems Halle im niedersächsischen Oldenburg einer der größten Strafprozesse der deutschen Nachkriegsgeschichte. Zu den mittelbaren Opfern in dieser beispiellosen Mordserie zählen die Angehörigen der Ermordeten, mutmaßlich auch die Angehörigen des Täters und all die Väter, Mütter, Töchter und Söhne der Ärzte, die für sein Verhalten nach Auffassung der Justiz ein Stück weit Verantwortung tragen und über die nun ebenfalls Recht gesprochen werden wird. Die letzte Reminiszenz an die direkten Opfer wird so schnell niemand vergessen, der dabei war: acht Minuten. Acht Minuten brauchte Sebastian Bührmann, um 85 Namen zu verlesen. Und zu jedem dieser Namen ein Todesdatum. Es waren unfassbar lange acht Minuten.