Der Kampf gegen den K.o.

Als Nina frühmorgens in einem Münchener Park zu sich kommt, auf dem Boden liegend, die Kleidung verrutscht, der Slip in den Kniekehlen, ist sie zunächst verwirrt. An die vergangenen Stunden kann sie sich nicht erinnern. Was sie noch weiß: Sie war in einem Klub, hat getanzt, sich amüsiert, mit Fremden geredet, Drinks ausgegeben bekommen – eigentlich ein ganz normaler Abend.

 

Und dann? Blackout.

Nina steigt in eine Straßenbahn, fährt nach Hause, eine schreckliche Ahnung macht sich in ihr immer mehr breit. Sie sucht zunächst Trost bei ihrer Schwester, am Folgetag geht sie zur Polizei, um sich rechtsmedizinisch untersuchen zu lassen, um aus der Ahnung Gewissheit werden zu lassen, koste es, was es wolle. Die Ergebnisse der Untersuchung lassen sie für die kommenden Wochen in ein tiefes Loch fallen. Das Labor findet an ihr fremde DNA-Spuren. Von mindestens zwei Männern, die sich an ihr vergangenen haben müssen. K.-o.-Tropfen – Nina ist sich inzwischen sicher, dass ihr jemand etwas in einen Drink gekippt haben muss – lassen sich nicht mehr nachweisen. Es ist zu viel Zeit vergangen.

Auch Felina wacht auf, nackt in einem fremden Bett, ohne Erinnerungen an die vergangenen Stunden. Auch sie hat eine Gedächtnislücke, weiß nicht, was passiert ist, nachdem sie den Saal verlassen hat. In dem Saal in Schwerte nähert sich der Abiball, den sie besucht hat, da gerade seinem Höhepunkt. Und dann? Blackout. Die Wohnung, in der sie am nächsten Tag zu sich kommt, gehört einem jungen Mann, den sie nur flüchtig kennt. Ihr dämmert, dass ihr etwas Schreckliches widerfahren sein muss. Felinas persönliches Umfeld ist in diesem Moment schon in Alarmbereitschaft. Die 18-Jährige ist schließlich nach dem Abiball nicht nach Hause gekommen, ihr Handy mittlerweile auf einer Wiese hinter der Veranstaltungshalle gefunden worden. Felinas Mutter, eine Psychiaterin, hat schon eine Suchaktion nach ihrer Tochter initiiert, an der sich Freunde und Mitschüler beteiligen. Dann ruft Felina endlich an, vom Handy ihres vermeintlichen Gastgebers. Sie fährt sogleich in eine Spezialklinik für Frauen, um sich untersuchen zu lassen. Vier Wochen später bekommt sie am Telefon die Untersuchungsergebnisse mitgeteilt. K.-o.-Tropfen, Spuren von Geschlechtsverkehr.

Lulu benötigt keine rechtsmedizinische Untersuchung, um Gewissheit zu haben. Als sie sexuell missbraucht wird, ist sie bei vollem Bewusstsein. Am Tatabend besucht sie spontan einen Bekannten. Ein weiterer, ihr unbekannter Mann hält sich in dessen Kieler Wohnung auf. Sie quatschen, rauchen, die Männer geben Lulu etwas zu trinken. Auf einmal ist Lulu wie gelähmt, bewegungsunfähig, nicht in der Lage, sich zu wehren, als die Männer über sie herfallen, sie fortgesetzt missbrauchen, von dem Ungeheuerlichen mit ihren Handys Videos drehen. Sie bekommt jedes Wort, jede Handlung mit. Als es endlich vorbei ist, Lulu sich endlich wieder bewegen kann, flieht sie aus der Wohnung und alarmiert ihren Freund. Der ruft die Polizei auf den Plan, die kurz darauf den Tatort stürmt und die beiden Männer verhaftet.

Nina, Felina und Lulu verbindet eine schreckliche Erfahrung: Alle drei Frauen bekamen K.-o.-Tropfen verabreicht und sexuell missbraucht. Heute, davon sind sie überzeugt, haben sie es geschafft. Durch ihr gemeinsames Schicksal sind aus Fremden Freundinnen geworden. Fotos: Evelyn Dragan

Frankfurt, ein heißer Nachmittag Anfang August, der „Yachtclub“, ein Boot am Sachsenhäuser Mainufer, auf dem abends gefeiert und tagsüber relaxt wird. Nina, Felina und Lulu sitzen dort im Schatten, trinken Brause, reden, lachen, lachen viel und ständig. In der Nacht zuvor haben sie sich in der hessischen Metropole getroffen, um das Wochenende miteinander zu verbringen. Es ist ihre erste persönliche Begegnung. Gesehen hatten sie sich da schon. In einem Film, der für die ZDF-Reihe „37 Grad“ gedreht und im Mai ausgestrahlt wurde. „K. o. getropft – Leben nach dem Filmriss“ heißt er. Die drei jungen Frauen sind seine Protagonistinnen, haben sich einzeln vor die Kamera begeben, um ihre Schicksale zu schildern. Sie tauschen über die Filmproduktionsfirma ihre Telefonnummern aus, gründen eine WhatsApp-Gruppe, eine Schicksalsgemeinschaft entsteht. Zunächst digital. Nun sind sie vereint. „Unsere Begegnung war überhaupt nicht komisch“, sagt Nina. „Es war so, als seien wir schon seit zehn Jahren befreundet“, pflichtet ihr Lulu bei. Felina verdeutlicht das: „Wir haben uns gleich in der Nacht im Hotelzimmer unsere Lebensgeschichten erzählt.“

Die drei jungen Frauen haben Spaß miteinander, aneinander Gefallen gefunden, wirken unbeschwert. Doch wie sieht es in ihnen aus? Kann es Opfern von Kriminalität helfen, ihre Geschichte einem Fernseh- oder Zeitungspublikum auszubreiten, Fremden Einblick in das eigene Seelenleben zu gewähren?

„Die Opferrolle ist nichts für mich.“

Nina wendet sich nach der Tat hilfesuchend an die Münchener Außenstelle des WEISSEN RINGS. Dort trifft sie auf deren Leiterin Andrea Hölzl, eine gut geschulte Helferin mit heute acht Jahren Erfahrung in der Opferbetreuung. Hölzl nimmt Nina ernst, glaubt ihr die Geschichte von den K.-o.-Tropfen, auch wenn diese nicht nachgewiesen werden konnten – im Gegensatz zur Münchener Kriminalpolizei. „K.-o.- Tropfen gibt es eigentlich nicht. Das wird von den Medien nur so aufgebauscht.“ Als Nina diese Worte hört, ist sie baff. Sie schmerzen. Gesprochen hat sie ein Polizeibeamter, mit dem Nina zu tun hat. Auch Felina muss Ähnliches erfahren. In der Schule wird viel über sie gesprochen, der Großteil der Mitschüler hält die Geschichte mit den K.-o.-Tropfen für die Ausrede von einer, die zu viel Alkohol getrunken hat, sich so aus einer sexuellen Eskapade rausreden will.

Schon unmittelbar nach dem Erlebnis hat Nina einen Entschluss gefasst: „Die Opferrolle ist nichts für mich.“ Sie beginnt zu kämpfen. Gegen das Trauma, für sich selbst. Dafür, künftig ein normales Leben führen, Männern vertrauen, eine Beziehung haben zu können. Hölzl unterstützt sie an vielen Fronten, etwa durch etliche Gespräche und durch die Vermittlung von Therapeuten und anwaltlicher Unterstützung. Doch zunächst ist es ein steiniger Weg, erst die dritte Therapie zeigt Erfolge. Dann kommt die erste Medienanfrage. Sie ist von einem RTL-Format, „Das Jenke-Experiment“. Nina sagt kurzentschlossen zu – um es wenig später wieder zu bereuen. „Eigentlich wollte ich wieder raus aus der Geschichte. Aber dann habe ich mir gesagt: Reiß dich zusammen, denk an die anderen.“ An die anderen Opfer von K.-o.-Tropfen, die nicht den Mut haben, in die Öffentlichkeit zu treten. Die auch nicht Ninas Talent haben, zu reden, frei zu agieren, auch in der ungewohnten Situation vor der Kamera. „Das war zunächst nicht schön, nicht angenehm. Aber ich wusste, dass ich die Kapazitäten dafür habe“, sagt Nina. „Ich habe sie vorher eindrücklich auf die Risiken hingewiesen und sie wiederholt gefragt, ob sie wirklich damit umgehen kann“, erinnert sich Hölzl.

Lulu wurde in der Wohnung eines Bekannten missbraucht. Foto: Evelyn Dragan

Doch nachdem sie schließlich ihre anfänglichen Bedenken und Ängste überwunden hat, entdeckt Nina etwas anderes in sich. Eine neue Stärke, ein bisschen so etwas wie eine Mission, einen Auftrag, für andere Opfer von K.-o.-Tropfen zu sprechen. Die Reaktionen, die sie auf die Ausstrahlung der RTL-Sendung bekommt, bestärken sie darin, weiterzumachen, ihre Geschichte wiederholt zu erzählen. Und Nina verändert sich. Die vor der Tat vorhandenen Selbstzweifel, die Ablehnung ihrer eigenen Weiblichkeit, all das beginnt schwächer zu werden. „Nach den Dreharbeiten habe ich mich zum ersten Mal in meinem Leben so richtig stolz auf mich selbst gefühlt“, schildert Nina. „Ich wollte eine Botschaft vermitteln, basierend auf meinen eigenen Erfahrungen: Das Leben geht für Opfer auch nach so einer Tat weiter. Und nicht nur irgendwie, sondern es kann wieder richtig gut werden. Vorausgesetzt, man investiert genug, sucht sich und bekommt professionelle Hilfe, macht eine Therapie, arbeitet hart an der Traumabewältigung.“ Rückblickend lautet ihre realistisch- nüchterne Einschätzung heute, fünf Jahre nach der Tat: „Natürlich hatte das Erlebnis Auswirkungen auf mein Leben. Aber in meinem Fall sind diese eher von maximal mittelfristiger Dauer gewesen.“

Wie ist es den anderen beiden ergangen? Lulus Peiniger wurden wegen schweren sexuellen Missbrauchs zu je drei Jahren Haft verurteilt. Zu einer Verurteilung wegen Vergewaltigung sollte das Geschehen nicht ausreichen – weil sie, die wegen der verabreichten Drogen völlig paralysiert war, sich nicht gewehrt hat. Fünf Monate nach dem Erlebnis wies sie sich für eine Zeit selbst ein in eine Klinik für posttraumatische Belastungsstörungen. Heute, zwei Jahre später, ist die 24-Jährige nach eigener Aussage wieder stabil, wenngleich ihr manches ein Rätsel bleiben wird. „Diese Typen sind ein hohes Risiko eingegangen. Ich hätte sterben können. Und das alles für Sex mit einer Bewegungsunfähigen, also quasi einer Leiche?“ Auch ihre Mutter und ihre beste Freundin haben sie aufgefangen, trotz phasenweiser Überforderung des familiären Umfelds. Und ihr damaliger Freund, mit dem sie sich nach der Tat verlobt hat

Self Love – die Liebe zu sich selbst entdeckte Nina, als sie sich nach der Tat intensiv mit sich selbst auseinandersetzte. Davon zeugt das Tattoo auf ihrem Oberarm. Foto: Evelyn Dragan

Schlechte Aufklärungsquote, hohe Dunkelziffer, keine konkreten Fallzahlen.

Bei Felina war es vor allem ihre Mutter, die aufgrund ihres beruflichen Netzwerks der Tochter den Weg zurück in die Normalität ebnen konnte. Wenn Felina heute wieder ausgeht, nachdem sie das für den Zeitraum von drei Jahren nach dem Missbrauch nicht mehr konnte und wollte, achtet sie besser auf sich selbst und auf ihr Umfeld. Sie geht nur an Orte, an denen sie Menschen kennt, denen sie vertrauen kann, passt stets auf ihre Getränke auf, macht andere darauf aufmerksam, ihre Gläser nicht unbeachtet zu lassen. Der junge Mann, bei dem Felina aufgewacht war, wurde nicht verurteilt. Er hatte behauptet, Felina habe sich freiwillig mit ihm eingelassen – Aussage gegen Aussage, im Zweifel für den Angeklagten. Bitter.

„Mir ist das passiert, die K.-o.-Tropfen wurden nachgewiesen, er hat zugegeben, dass wir Sex hatten – und dann passiert nichts“ – von der Justiz ist Felina nach wie vor enttäuscht. In der Schlussszene der „37 Grad“-Dokumentation verbrennt Felina das Kleid, das sie in der Tatnacht getragen hat – bereit dazu, die Vergangenheit endgültig hinter sich zu lassen.Und Nina? Die Dreharbeiten zu dem ZDF-Film waren für die heute 35 Jahre alte Selbstständige ein symbolischer Abschluss mit dem Erlebten. Mission erfüllt.

Für Andrea Hölzl hat die Ausstrahlung der Reportage einen messbaren Effekt in der Münchener Außenstelle gehabt. Dort haben sich im Anschluss an den Sendetermin mehrere Opfer von Straftaten gemeldet, die durch „K. o. getropft – Leben nach dem Filmriss“ auf die Arbeit des WEISSEN RINGS aufmerksam geworden sind. Die juristische Aufarbeitung von Ninas Fall war eigentlich bereits längst abgeschlossen – ohne Ergebnis, ohne einen oder gar beide Täter dingfest gemacht zu haben. Im Allgemeinen haben Fälle von sexuellem Missbrauch nach Verabreichung von K.-o.-Tropfen eine schlechte Aufklärungsquote und eine hohe Dunkelziffer, konkrete Fallzahlen gibt es nicht. Aber nachdem der Film über die Mattscheiben gelaufen war, hat die Münchener Kriminalpolizei erneut Ermittlungen aufgenommen und tatsächlich einen möglichen Täter identifiziert. Doch auch dieses Verfahren ist aktuell wieder vorläufig eingestellt – weil der Aufenthaltsort des Mannes im Moment nicht bekannt ist. Bitter. Doch eins haben die drei Frauen dazugewonnen: die Gewissheit, mit ihrem Schicksal nicht allein zu sein und es bewältigen zu können. Und eine neu geschlossene Freundschaft.

Forum Opferhilfe 3/2018

Ausgabe 3/2018

Themenschwerpunkte: K.-O.-Tropfen Jörg Ziercke ist neuer Bundesvorsitzender Eine Messerattacke verändert ein Leben 25 Jahre Opferhilfe in Brandenburg & Thüringen